Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis Buch: Die liberale Gesellschaft Titel: Die liberale Gesellschaft Stichwort: Fanatismus; Menschenrechte - Funktionalismus; Skinner; G. Picht
Kurzinhalt: Das Resultat dieser Selbstauflösung ist ein systemtheoretischer Rationalitätsbegriff, der nur noch auf die Funktionalität von Systemelementen reflektiert und auf die eventuellen Evolutionsschübe, die durch Dysfunktionalitäten bewirkt werden. Textausschnitt: 180a Die westliche Zivilisation hatte seit dem 17. Jahrhundert für unbedingte, sich dem universellen Diskurs entziehende Überzeugungen die absprechende Vokabel "Fanatismus" bereit. Das Wort wurde zunächst von Katholiken gegen Protestanten verwendet, später von orthodoxen Protestanten gegen das Schwärmertum und schließlich von den Protagonisten der Aufklärung gegen jede Form von Offenbarungsglauben. Der Islam galt dabei als die gegen eine Transformation in "natürliche Religion" besonders resistente Form des Offenbarungsglaubens und deshalb - so für Voltaire - als Prototyp des Fanatismus. (Fs)
181a Fanatismus war der Gegenbegriff zum Ideal der Vernunftherrschaft, also des voraussetzungslosen, rationalen, universalen Diskurses über das Wahre und das Falsche, das Gute und das Schlechte. Ein solcher Diskurs sollte deshalb möglich und ergiebig sein, weil Vernunft, wie Descartes schrieb, die am gleichmäßigsten verteilte Sache der Welt ist. Vernunftherrschaft und Menschenrechte schienen nahezu synonym zu sein. Der Historismus des 19. Jahrhunderts hat bewußt gemacht, daß Vernunftuniversalismus, Menschenrechte und Wissenschaft selbst nur auf dem Boden einer bestimmten Kultur mit sehr spezifischen Voraussetzungen entstehen konnten. Der Kulturrelativismus des 20. Jahrhunderts behauptet, daß diese Postulate an ihre geschichtlichen Voraussetzungen gebunden bleiben, also gerade nicht universelle Geltung beanspruchen können. In diesem Sinne trat vor einigen Jahren Georg Picht dem Menschenrechtsuniversalismus als dem verspäteten Ausdruck einer in Europa zusammengebrochenen Metaphysik entgegen. Er zog nicht in Erwägung, daß die Evidenz der Menschenrechte für jeden, der ihrer beraubt ist, vielleicht umgekehrt ein Argument für die in ihnen implizierte Metaphysik sein könnte. Indem der europäische Universalismus sich so von seinen eigenen Fundamenten emanzipiert, löst er sich selbst auf. Das Resultat dieser Selbstauflösung ist ein systemtheoretischer Rationalitätsbegriff, der nur noch auf die Funktionalität von Systemelementen reflektiert und auf die eventuellen Evolutionsschübe, die durch Dysfunktionalitäten bewirkt werden. Funktionalismus ist eine Denkweise, die, indem sie alle Inhalte als Funktionen begreift, prinzipiell alle Inhalte durch funktionale Äquivalente ersetzbar macht. Eine funktionalistische Zivilisation ist eine hypothetische Zivilisation. Dogmatische Überzeugungen, unbedingte moralische Verdikte - z. B. gegenüber Folter oder Abtreibung -, unwiderrufliche persönliche Bindungen sind in einer solchen Zivilisation Fremdkörper. Sie kann moralische Probleme - z. B. solche der Gentechnologie - nur als Akzeptanzprobleme begreifen, selbst aber nichts dazu beitragen, Akzeptanz zu legitimieren oder zu verhindern. "Freiheit und Würde" erscheinen einem szientistischen Aufklärer wie Skinner als fundamentalistische Relikte, die bei der Konstruktion einer befriedeten und funktionsfähigen Gesellschaft nur hinderlich sein können, ähnlich hinderlich wie schon für den modernen Souveränitätstheoretiker Thomas Hobbes das biblische "Man muß Gott mehr gehorchen als dem Menschen". (Fs) (notabene)
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