Autor: Lonergan, Bernard J.F. Buch: Die Einsicht Titel: Die Einsicht Bd. I und II Stichwort: Transzendenz; Notion von Gott 3; Unterschied; physisches, moralisches Übel (Folge der Grundsünde), Sünde; Grundsünde (Wurzel des Irrationalen im rationalen Selbstbewusstsein); Kausalität; Trichotomie (Satz vom Widerspruch)
Kurzinhalt: Unter Grundsünde werde ich das Versagen des freien Willens verstehen, einen moralisch verpflichtenden Handlungsverlauf zu wählen, oder sein Versagen, einen moralisch verwerflichen Handlungsverlauf abzulehnen.
Textausschnitt: 748c Fünfundzwanzigstens, etwas muß über das Böse und die Sünde gesagt werden. Es scheint ja, daß Gott, weil er die wirksame Ursache von allem im Universum ist, der Autor aller seiner Übel und verantwortlich für all seine Sünden sein muß. Bevor wir aber zu dieser Konklusion springen, wollen wir zwischen dem physischen Übel, dem moralischen Übel und der Grundsünde unterscheiden. (Fs)
748d Unter Grundsünde werde ich das Versagen des freien Willens verstehen, einen moralisch verpflichtenden Handlungsverlauf zu wählen, oder sein Versagen, einen moralisch verwerflichen Handlungsverlauf abzulehnen. Die Grundsünde ist damit die Wurzel des Irrationalen im menschlichen rationalen Selbstbewußtsein. Als intelligent und rational bewußter erfaßt und bejaht der Mensch, was er tun soll und was er nicht tun soll. Wissen ist nun aber eine Sache und Tun eine ganz andere. Wenn er will, tut er, was er soll; wenn er will, wendet er seine Aufmerksamkeit von den Plänen ab, das zu tun, was er nicht tun soll; wenn er aber zu wollen versagt, dann wird der verpflichtende Handlungsverlauf nicht ausgeführt; wiederum, wenn er zu wollen versagt, verweilt seine Aufmerksamkeit bei den unerlaubten Absichten; die Unvollständigkeit ihrer Intelligibilität und die Inkohärenz ihrer scheinbaren Vernünftigkeit werden ignoriert; und in dieser Verengung des Bewußtseins, welche die Grundsünde ist, geschieht dann die falsche Handlung, die zwar auffallender, in Wirklichkeit aber abgeleitet ist. (Fs)
749a Zweitens, unter moralischen Übeln werde ich die Folgerungen der Grundsünde verstehen. Aus der Grundsünde, nicht zu wollen, was man wollen sollte, folgen moralische Übel der Auslassung und eine Erhöhung der Versuchung in sich selbst oder in anderen zu weiteren Grundsünden. Aus der Grundsünde, unerlaubte Absichten nicht beiseite zu setzen, folgt ihre Ausführung und eine positivere Erhöhung der Spannung und der Versuchung in sich selbst und in seinem sozialen Milieu. (Fs)
749b Schließlich, unter physischen Übeln werde ich alle die Unzulänglichkeiten einer Weltordnung verstehen, die - so weit wir sie verstehen - in einer verallgemeinerten emergenten Wahrscheinlichkeit besteht. Denn in einer solchen Ordnung geht die ungeordnete Menge dem formalen Gut höherer Einheiten und höherer Ordnungen (667) voraus; das Unentwickelte geht dem Entwickelten voraus; es gibt Fehlstarts, Zusammenbrüche, Versagen; Fortschritt geschieht um den Preis des Risikos; Sicherheit paart sich mit Sterilität; und das Leben des Menschen wird von einer Intelligenz gelenkt, die entwickelt, und von einer Willigkeit, die erworben werden muß. (Fs)
749c Die Relevanz dieser dreifachen Unterscheidung für unser Problem dürfte nicht schwierig zu erkennen sein. Ein Problem ist ja eine Frage nach Einsicht; es definiert eine zu erfassende Intelligibilität; und die Intelligenz kann offenkundig nicht Grundsünden, moralische Übel und physische Übel zusammenwerfen. (Fs)
749d Erstens, alles, was die Intelligenz in bezug auf die Grundsünden erfassen kann, ist daß es keine zu erfassende Intelligibilität gibt. Was ist die Grundsünde? Sie ist das Irrationale. Warum kommt sie vor? Gäbe es einen Grund, wäre es keine Sünde. Es mag Entschuldigungen geben; es mag mildernde Umstände geben; aber es kann keinen Grund geben; denn die Grundsünde besteht nicht darin, daß man sich Gründen und Vernunft unterwirft, sondern darin, daß man versagt, sich ihnen zu unterwerfen; sie besteht nicht in einem unaufmerksamen Versagen, sondern in Beachtung und im Wissen um die Verpflichtung, der, nichtsdestoweniger, nicht durch eine vernünftige Antwort gefolgt wird. (Fs)
749e Wenn nun die Grundsünde einfach irrational ist, wenn sie zu verstehen im Erfassen besteht, daß sie keine Intelligibilität hat, dann kann sie evidentermaßen nicht auf intelligible Weise von irgendetwas anderem abhängen. Was aber nicht in einem intelligiblen Abhängigkeitsverhältnis zu irgendetwas anderem stehen kann, kann keine Ursache haben; denn die Ursache ist korrelativ zu einer Wirkung; und eine Wirkung ist das, was in intelligibler Abhängigkeit von etwas anderem steht. Schließlich, wenn die Grundsünden keine Ursache haben können, kann Gott nicht ihre Ursache sein. Und diese Konklusion widerspricht auch nicht unserer früheren Behauptung, daß jedes Ereignis von Gott verursacht wird. Denn die Grunsünde ist kein Ereignis; sie ist nicht etwas, das positiv vorkommt; im Gegenteil, sie besteht in der Versäumnis eines Vorkommnisses, in der Abwesenheit im Willen einer vernünftigen Antwort auf ein verpflichtendes Motiv. (Fs)
750a Ferner, wenn ein Problem das Irrationale in sich enthält, kann es nur in einer hoch komplexen und kritischen Weise korrekt angegangen werden. Wenn der Mathematiker den imaginären Zahlen genau dieselben Eigenschaften zuschreiben würde, die er in den reellen Zahlen findet, würde er gewiß einen Schnitzer machen. Ein gravierender und nicht weniger unvermeidlicher Mißgriff wartet auf jeden, der die durch die Irrationalität der Grundsünde erforderten Unterscheidungen zu machen und den entsprechenden Regeln zu folgen versäumt. Denn die bekannte Disjunktion des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten (entweder A oder nicht-A) muß durch eine Trichotomie ersetzt werden. Neben dem, was positiv ist, und dem, was einfach nicht ist, gibt es das Irrationale, das in dem besteht, was sein könnte und (668) sollte, aber nicht ist. Außer dem Sein, das Gott verursacht, und dem Nicht-Sein, das Gott nicht verursacht, gibt es das Irrationale, das Gott weder verursacht noch nicht verursacht, sondern von dem er zuläßt, daß andere es begehen. Außer dem tatsächlichen Guten, das Gott will, und dem nicht verwirklichten Guten, das Gott nicht will, gibt es die Grundsünden, die er weder will, noch nicht will, sondern verbietet. (Fs)
750b Nun ist es bestimmt nicht schlecht, sondern gut, ein derart vorzügliches Seiendes zu erschaffen, das rationales Selbstbewußtsein besitzt, aus dem Freiheit auf natürliche Weise folgt. Es ist nicht schlecht, sondern gut, diese Freiheit unangetastet zu lassen, zwar das Gute zu befehlen und das Böse zu verbieten, aber sich einer Einmischung zu enthalten, die die Freiheit auf einen illusorischen Schein reduzieren würde. Infolgedessen ist es nicht schlecht, sondern gut, eine Weltordnung zu entwerfen, wählen und bewirken, auch wenn Grundsünden auftreten können und werden. Es bedeutet nämlich einen Fehlschluß, wenn argumentiert wird, daß Grundsünden entweder Entitäten oder Nicht-Entitäten sind, und daß sie, wenn sie Entitäten sind, auf die universelle Ursächlichkeit Gottes zurückzuführen sind, wenn sie aber Nicht-Entitäten sind, auf Gottes Unwilligkeit, die gegenteiligen Entitäten zu bewirken, zurückzuführen sind. (Fs)
750c Es bleiben die physischen und die moralischen Übel. Wenn nun das Kriterium des Guten und Bösen Lust und Schmerz sind, dann sind physische und moralische Übel evidentermaßen letztlich ein Übel. Das angemessene Kriterium für das Gute aber ist die Intelligibilität, und alles außer der Grundsünde kann in diesem Universum verstanden werden und ist deshalb gut. Denn die Unvollkommenheit des Niedrigeren ist die Potentialität für das Höhere; das Unentwickelte ist für das Entwickelte; und sogar die moralischen Übel zielen durch die dialektische Spannung, die sie herbeiführen, entweder auf ihre eigene Aufhebung oder auf eine Verstärkung des moralisch Guten ab. Auf diese Weise kann eine verallgemeinerte emergente Wahrscheinlichkeit selbst von unserem limitierten Verstand als eine immanente und hoch intelligible Ordnung erfaßt werden, die alles in unserem Universum umfaßt. (Fs)
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