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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Transzendenz; transzendente Idee; Extrapolation: von der Notion zur Idee des Seins

Kurzinhalt: Man kann unterscheiden zwischen (1) der reinen Notion des Seins, (2) der heuristischen Notion des Seins, (3) eingeschränkten Akten des Verstehens, der Begriffsbildung und der Bejahung von Sein und
(4) dem uneingeschränkten Akt des Verstehens von Sein.

Textausschnitt: 4. Vorbemerkungen zur Auffassung der transzendenten Idee

722a Die Erkenntnis des transzendenten Seins schließt sowohl intelligentes Erfassen wie auch vernünftiges Bejahen mit ein. Bevor wir aber vernünftig bejahen können, müssen wir intelligent erfassen; und bevor wir das transzendente Sein intelligent erfassen können, müssen wir vom proportionierten Sein aus extrapolieren. Der gegenwärtige Abschnitt befaßt sich also mit dieser Extrapolation. (Fs)

722b Die Natur der Extrapolation kann am besten dadurch erläutert werden, daß wir sie mit der Mathematik vergleichen. Denn der Mathematiker unterscheidet sich sowohl vom Logiker als auch vom Naturwissenschaftler. Er unterscheidet sich vom Logiker, insofern er nicht einräumen kann, daß alle die Termini und Relationen, die er verwendet, reine Gedankenobjekte sind. Er unterscheidet sich vom Wissenschaftler, insofern er nicht jedes Gedankenobjekt zurückweisen muß, dem die Verifikation abgeht. In etwas ähnlicher Weise beschäftigt sich der gegenwärtige Versuch, die transzendente Idee zu bilden, einfach mit Begriffen, mit Objekten des (642) Annehmens, Definierens, Betrachtens, und es stellt sich deshalb keine Frage nach Existieren oder Vorkommen. Trotzdem operiert die Extrapolation auf das Transzendente hin, wenn sie auch begrifflich ist, von der realen Grundlage des proportionierten Seins aus, so daß einige Elemente in der transzendenten Idee verifizierbar sein werden, so wie einige positive ganze Zahlen verifizierbar sind. (Fs)

723a Die Frage, die zur Extrapolation führt, wurde schon gestellt, aber noch nicht beantwortet. Wir haben ja das Wirkliche mit dem Sein identifiziert, aber nicht gewagt zu sagen, was denn das Sein ist. Was also ist das Sein?

Wir wollen uns erst orientieren. Man kann unterscheiden zwischen
(1) der reinen Notion des Seins,
(2) der heuristischen Notion des Seins,
(3) eingeschränkten Akten des Verstehens, der Begriffsbildung und der Bejahung von Sein und
(4) dem uneingeschränkten Akt des Verstehens von Sein. (Fs)

723b Die reine Notion des Seins ist das unvoreingenommene, uneigennützige und uneingeschränkte Erkenntnisstreben. Sie geht dem Verstehen und Bejahen voraus; aber sie zielt auf diese hin, weil sie der Grund der intelligenten Untersuchung und der vernünftigen Reflexion ist. Dieses Sich-Bewegen auf das Erkennen hin ist zudem selbst eine Notion; denn es zielt nicht unbewußt, wie der Samen auf die Pflanze hin, und auch nicht sinnesmäßig, wie der Hunger auf die Nahrung hin, sondern intelligent und vernünftig, wie die radikale noesis auf jedes noema hin, wie die grundlegende pensee pensante auf jede pensee pensee hin, wie die initiierende intentio intendens auf jede intentio intenta hin. (Fs)
723c Zweitens, weil die reine Notion des Seins sich durch das Verstehen und das Urteilen entfaltet, kann eine heuristische Notion des Seins formuliert werden als das, was immer intelligent zu erfassen und vernünftig zu bejahen ist. (Fs)

723d Drittens, wenn die reine Notion auch ein unbeschränktes Streben ist, ist sie doch ein intelligentes und vernünftiges Streben. Sie begnügt sich deshalb damit, sich vorläufig zu beschränken, eine Frage auf einmal zu stellen, von anderen Fragen abzusehen, während sie auf die Lösung der vorliegenden Fragestellung hinarbeitet. Aus diesem Absehen, welches komparative negative Urteile vorwegnimmt, so wie die Notion der Natur oder der Essenz oder des Allgemeinen den Inhalt der intelligenten Definition vorwegnimmt, folgen beschränkte Untersuchungen, beschränkte Verstehens- und Auffassensakte, Reflexion über solche Auffassungen und schließlich Urteile über einzelne Seiende und einzelne Bereiche des Seins. (Fs)

724a Viertens, keine der erwähnten Handlungen versetzt uns in die Lage, auf die Frage "Was ist das Sein?" zu antworten. Die reine Notion des Seins wirft alle Fragen auf, beantwortet aber keine. Die heuristische Notion faßt alle Antworten ins (643) Auge, bestimmt aber keine. Einzeluntersuchungen lösen einige Fragen, aber nicht alle. Nur ein uneingeschränkter Akt des Verstehens kann das Problem lösen. Denn das Sein ist völlig universal und völlig konkret; außer ihm gibt es nichts; und deshalb kann die Erkenntnis dessen, was das Sein ist, nicht in weniger als in einem Akt erzielt werden, der alles von allem versteht. In Korrelation zu einem unbeschränkten Streben nach Verstehen kann entweder ein unbegrenzter Prozeß der Entwicklung oder ein unbeschränkter Verstehensakt gesetzt werden. Der Inhalt des sich entwickelnden Verstehens ist aber nie die Idee von Sein; denn solange das Verstehen sich entwickelt, gibt es weitere Fragen, die zu beantworten sind. Nur der Inhalt des unbeschränkten Verstehensaktes kann die Idee des Seins sein, weil nur in der Annahme eines unbeschränkten Aktes alles über alles verstanden ist. (Fs)

724b Es folgt, daß die Idee des Seins absolut transzendent ist. Denn sie ist der Inhalt eines Aktes uneingeschränkten Verstehens. Ein solcher Akt bringt uns nun aber nicht nur über alle menschlichen Errungenschaften hinaus, sondern gibt auch die letzte Grenze des ganzen Prozesses des Darüber-Hinausgehens an. Einsichten und Gesichtspunkte können transzendiert werden, solange weitere Fragen gestellt werden können. Wenn aber alles von allem verstanden ist, so gibt es keinen Platz mehr für weitere Fragen. (Fs)

724c Wir haben von der Frage: "Was ist das Sein?" auf die absolut transzendente Idee des Seins extrapoliert, und da stellt sich selbstverständlich die kritische Frage. Weil das menschliche Erkenntnisstreben unbeschränkt ist, während seine Erkenntnisfähigkeit beschränkt ist, braucht man kein Narr zu sein, um mehr Fragen zu stellen, als ein Weiser beantworten kann. Gewiß fragen die Menschen "Was ist das Sein"? Seit wir das Reale mit dem Sein identifizierten, haben wir uns bemüht, diese Frage hinzuhalten, bis wir sie in angemessener Weise anpacken könnten. Doch wenn die Frage sich auch sehr natürlich stellt, folgt nicht, daß die natürlichen Anlagen des Menschen genügen, um sie zu beantworten. Der Mensch kann sie offensichtlich nicht dadurch beantworten, daß er über einen unbeschränkten Verstehensakt verfügt; denn dann wäre seine Erkenntnisfähigkeit nicht beschränkt und er würde keine kritischen Untersuchungen brauchen. Es scheint aber ebenfalls offensichtlich, daß der Mensch die Frage beantworten kann, indem er die Konklusion ausarbeitet, daß die Idee von Sein der Inhalt eines uneingeschränkten Verstehensaktes ist. Die Tatsache erweist ja die Möglichkeit; und wir haben diese Konklusion erreicht. Außerdem, was wir bereits auf eine in hohem Maße allgemeine Weise bestimmt haben, kann nun noch detaillierter ausgearbeitet werden. Denn einerseits haben wir den Umriß einer Metaphysik des proportionierten Seins herausgearbeitet, und so steht uns zumindest ein Segment im Gesamtbereich der Idee des Seins zur Verfügung. Andererseits haben wir uns im ganzen vorliegenden Werk damit (644) beschäftigt, die Natur des Verstehens in der Mathematik, im Common Sense, in den Wissenschaften und in der Philosophie zu bestimmen; und deshalb steht uns nun eine Masse von Beweismaterial zur Verfugung, das einige Bestimmungen für die Notion eines unbeschränkten Verstehensaktes liefert. Demnach gelangen wir zu dem Schluß, daß der Mensch zwar sich keines unbeschränkten Verstehensaktes erfreut und so die Frage: "Was ist das Sein?" nicht beantworten kann; daß er aber doch eine Anzahl von Eigenschaften der Antwort bestimmen kann, indem er auf der Subjektseite vom beschränkten zum unbeschränkten Verstehen und auf der Objektseite von der Struktur des proportionierten Seins zur transzendenten Idee des Seins aufsteigt. (Fs)

725a In der Tat ist eine solche Vorgehensweise nicht nur möglich, sondern auch unumgänglich. Denn das reine Streben schließt nicht nur den Totalobskurantismus aus, der willkürlich jede intelligente und vernünftige Frage beseite wischt, sondern auch den Teilobskurantismus, der willkürlich diesen oder jenen Teil des Bereiches intelligenter und vernünftiger Fragen beiseite wischt, die genau bestimmte Antworten zulassen. So wie der Mathematiker legitimer- und fruchtbarerweise vom Existierenden aus auf Reihen des Nichtexistierenden extrapoliert, so wie der Physiker vom mathematischen Wissen profitiert und eigene Extrapolationen wie etwa den absoluten Nullpunkt der Temperatur hinzufügt, so ist eine Erforschung der Idee des Seins notwendig, wenn man die Macht und die Grenzen des menschlichen Verstandes ausmessen will. (Fs)

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