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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Transzendenz; Notion der transzendenten Erkenntnis; Tatsache - Möglichkeit

Kurzinhalt: Sein ist das, was immer intelligent erfaßt und vernünftig bejaht werden kann. Das Sein ist proportioniert oder transzendent, je nachdem, ob es innerhalb oder außerhalb des Bereichs der äußeren und inneren Erfahrung des Menschen liegt.

Textausschnitt: 3. Die Notion der transzendenten Erkenntnis

720a Das unbeschränkte Erkenntnisstreben des Menschen ist mit einer beschränkten Fähigkeit zur Erreichung von Erkenntnis verbunden. Aus diesem Paradox folgen sowohl eine Tatsache wie auch eine Forderung. Die Tatsache ist, daß der Bereich der möglichen Fragen weitgehender ist als der Bereich der möglichen Antworten. Die Forderung ist die nach einer kritischen Prüfung der möglichen Fragen. Denn nur durch eine solche kritische Prüfung kann sich der Mensch intelligente und vernünftige Gründe verschaffen, die es ihm ermöglichen, nicht beantwortbare Fragen beiseite zu legen und seine Aufmerksamkeit auf jene Fragen zu beschränken, die beantwortbar sind. (Fs)

720b Dieses kritische Unternehmen ist nicht so einfach, wie angenommen worden ist. Denn während die Fragestellung in den Termini von Möglichkeit und Unmöglichkeit formuliert wird, kann sie nur in den Termini von Tatsachen beantwortet werden. Erstens ist die Frage nach der Möglichkeit regressiv. Wenn irgendeiner weniger allgemeinen Untersuchung eine kritische Untersuchung ihrer Möglichkeit vorausgehen muß, dann muß der kritischen Untersuchung eine vor-kritische Untersuchung über die Möglichkeit der kritischen Untersuchung vorausgehen, die vor-kritische Untersuchung wiederum benötigt eine vor-vor-kritische Untersuchung und so endlos weiter. Zweitens können Fragen nach Möglichkeit und Unmöglichkeit nur durch Bezugnahme auf Tatsachenurteile entschieden werden. Denn während es analytische Aussagen gibt und während diese ad libitum durch das Postulieren von syntaktischen Regeln und das Definieren von diesen Regeln unterworfenen Termini aufgestellt werden können, können analytische Prinzipien doch nur erhalten werden, indem die weitere Forderung erfüllt wird, daß sowohl die Termini wie auch die Relationen der analytischen Aussagen in konkreten Tatsachenurteilen vorkommen. (Fs)

720c Das ausschlaggebende Element bei der Bestimmung der Möglichkeit von (640) Erkenntnis ist dann also immer die Tatsache der Erkenntnis. Das Argument wird immer sein, daß eine Erkenntnis möglich ist, wenn eine Erkenntnis dieser Art tatsächlich vorkommt. Es folgt, daß die kritische Fragestellung nur stückweise in Angriff genommen werden kann. Die Tatsachen müssen eine nach der anderen ermittelt werden, und die Antwort auf die kritische Fragestellung zeigt sich erst in der großangelegten Strategie, welche die reihenweise Anordnung der Tatsachen leitet. (Fs)

720d In unserem eigenen Vorgehen können vier Stadien unterschieden werden. Erstens, wir konzentrierten die Aufmerksamkeit auf die kognitive Aktivität als Aktivität und versuchten die Schlüsselereignisse im Erlernen der Mathematik, in der Beförderung der Wissenschaft, in der Entwicklung des Common Sense und im Bilden von Urteilen auf diesen Gebieten zu erfassen. Zweitens, wir wandten uns der kognitiven Aktivität als kognitiver zu und begannen bei dem besonderen Fall der Selbstbejahung, um zu zeigen, daß die Selbstbejahung vorkommt, daß es sich bei ihr um Erkenntnis handelt, wenn Erkennen das Erkennen von Sein bedeutet, und daß sie objektiv ist im Sinne gewisser bestimmbarer Bedeutungen des Terminus Objektivität. Drittens, wir wandten uns dem allgemeinen Fall der Erkenntnis von proportioniertem Sein zu und, weil die Selbstbejahung ein Schlüsselakt war, konnten wir ein allgemeines dialektisches Theorem aufstellen, das die Formulierungen der Entdeckungen menschlicher Intelligenz in Positionen und Gegenpositionen aufteilte und zeigte, daß die Positionen zu einer Entwicklung und die Gegenpositionen zu ihrer eigenen Umkehrung auffordern. Auf dieser Grundlage erwies es sich als möglich, eine Metaphysik des proportionierten Seins und eine entsprechende daraus folgende Ethik aufzustellen. (Fs)

721a Das vierte Stadium des Argumentes beschäftigt sich mit der menschlichen Erkenntnis des transzendenten Seins. Das Skelett des Verfahrens ist ziemlich einfach. Sein ist das, was immer intelligent erfaßt und vernünftig bejaht werden kann. Das Sein ist proportioniert oder transzendent, je nachdem, ob es innerhalb oder außerhalb des Bereichs der äußeren und inneren Erfahrung des Menschen liegt. Die Möglichkeit transzendenter Erkenntnis ist dann die Möglichkeit des intelligenten Erfassens und vernünftigen Bejahens eines transzendenten Seins. Und der Beweis für die Möglichkeit liegt in der Tatsache, daß ein solches intelligentes Erfassen und vernünftiges Bejahen vorkommen. (Fs) (notabene)

721b Wie wir aber bemerkt haben, kann eine derart allgemeine Skizze nicht zeigen, ob das Verfahren kritische Bedeutung besitzt oder nicht. Denn diese Bedeutung liegt nicht im Beweis der Möglichkeit von der Tatsache her, sondern in der strategischen Wahl und reihenweisen Anordnung der Tatsachen. Im Moment ist alles, was über das vierte Stadium des Argumentes gesagt werden kann, daß es in dem Maße beitragen wird, die Macht und die Schranken des menschlichen Verstandes zu bestimmen, als das intelligente Erfassen und das vernünftige Bejahen des transzendenten Seins sich als den unvermeidlichen Höhepunkt unserer ganzen Darstellung von Verstehen und Urteil herausstellen. (Fs)

721c Zum Schluß wird es nicht fehl am Platze sein daraufhinzuweisen, daß dieser (641) Abschnitt über die Notion der transzendenten Erkenntnis keines Kommentars über die Ansichten von Kantianern und Positivisten bedarf. Denn wenn beide Gruppen auch lautstark die Möglichkeit transzendenter Erkenntnis bestreiten, hat uns ihre Unfähigkeit, eine adäquate Darstellung der proportionierten Erkenntnis herauszuarbeiten, schon auf einer elementareren Stufe des Argumentes dazu gezwungen, unsere Differenzen zu registrieren. Wenn man nicht Comtes mythische Religion der Humanität als etwas Positives betrachtet, hat der Positivismus den Gegenpositionen, so wie diese durch den Materialismus, Empirismus, Sensualismus, Phänomenalimus, Solipsismus, Pragmatismus, Modernismus und Existenzialismus veranschaulicht werden, nichts Positives hinzuzufügen. Im Gegensatz dazu ist Kants Denken reich und fruchtbar in den Problemen, die es aufwirft. Aber seine transzendentale Ästhetik ist von den jüngeren Arbeiten in Geometrie und Physik schwer beschädigt worden, und die transzendentale Logik krankt an einer Inkohärenz, die nicht zu beheben scheint. Denn die transzendentale Dialektik stellt ihre Behauptung einer transzendentalen Illusion auf die Grundlage, daß das Unbedingte nicht ein konstituierender Faktor im Urteil sei, sondern lediglich ein regulatives Ideal der reinen Vernunft. Indes liefert der Schematismus der Kategorien die Verbindung zwischen der Sinnlichkeit und den reinen Kategorien des Verstandes; eine derartige Verbindung geht dem Urteil voraus und ist ein konstituierender Faktor im Urteil als konkretem. Schließlich, während Kant nicht bemerkt, daß der Schematismus einfach eine Anwendung des virtuell Unbedingten ist (wenn z. B. die leere Form der Zeit gefüllt wird, so gibt es einen Fall von Realität; das Füllen findet statt; also gibt es einen Fall von Realität), bleibt doch die Tatsache, daß das Unbedingte den Schematismus begründet und so das konkrete Urteil nach Kants eigener Darstellung begründet. (Fs)

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