Autor: Lonergan, Bernard J.F. Buch: Die Einsicht Titel: Die Einsicht Bd. I und II Stichwort: Transzendenz; immanente Quelle der T.; Streben: unvoreingenommen, uneigennützig; unbeschränktes Streben - unbeschränktes Erkennen
Kurzinhalt: Zweitens, zu behaupten, daß das Streben unbeschränkt sei, bedeutet nicht zu behaupten, daß das Erreichen von Verstehen unbeschränkt sei.
Textausschnitt: 2. Die immanente Quelle der Transzendenz
717a Die immanente Quelle der Transzendenz im Menschen ist sein unvoreingenommenes, uneigennütziges und uneingeschränktes Erkenntnisstreben. Weil dieses der Ursprung all seiner Fragen ist, ist es der Ursprung der radikalen weiteren Fragen, die ihn über die genau festgelegten Grenzen einzelner Fragestellungen hinaustragen. Und es ist auch nicht bloß der Operator seiner kognitiven Entwicklung. Denn seine Unvoreingenommenheit und Uneigennützigkeit versetzen ihn in Opposition zu seiner voreingenommenen und eigennützigen Sinnlichkeit und Intersubjektivität; und die Erkenntnis, die es ermöglicht, verlangt von seinem Willen, daß er sich zur Willigkeit entwickle und so sein Tun zur Übereinstimmung mit seinem Erkennen bringe. (Fs) (notabene)
717b Wenn nun diese Spannung auch zu offenkundig ist, als daß die Existenz des reinen Erkenntnisstrebens bezweifelt werden könnte, scheint die Behauptung, es handle sich um ein unbeschränktes Streben, doch so extravagant, daß sie Zweifel auch bei jenen weckt, die schon all seine Implikationen akzeptieren. Es wird deshalb angebracht sein, diesen Punkt noch einmal zu klären, ehe wir in unserer Untersuchung weiter gehen. (Fs)
717c Das fragliche Streben ist also ein Streben nach korrektem Verstehen. Zu (637) behaupten, daß das Streben unbeschränkt ist, bedeutet nicht zu behaupten, das menschliche Verstehen sei unbeschränkt oder die Korrektheit seines Verstehens sei unbeschränkt. Das Streben geht ja dem Verstehen voraus und ist auch mit einem Nichtverstehen kompatibel. Wäre es dies nicht, so wären die Bemühung und der Prozeß der Untersuchung unmöglich; denn die Untersuchung ist die Äußerung eines Strebens nach Verstehen und tritt ein, ehe man versteht. (Fs)
717d Zweitens, zu behaupten, daß das Streben unbeschränkt sei, bedeutet nicht zu behaupten, daß das Erreichen von Verstehen unbeschränkt sei. Denn der Übergang vom Streben zum Erreichen hat Bedingungen, die vom Streben verschieden sind. Wissenschaftliche und philosophische Methoden existieren gerade, um diese Bedingungen zu erfüllen zu helfen. Ein unbeschränktes Streben zu behaupten, bedeutet also, die Erfüllung nur einer von vielen Bedingungen für das Erreichen des unbeschränkten Verstehens zu behaupten. Weit davon entfernt zu behaupten, daß die anderen Bedingungen erfüllt sein werden, versucht er nicht zu bestimmen, welches die anderen Bedingungen sein mögen. (Fs)
717e Drittens, die Behauptung der Unbeschränktheit des Strebens bedeutet nicht die Behauptung, daß in einem weise geordneten Universum das Erreichen von Verstehen unbeschränkt sein müsse. Eine solche Behauptung würde aus der Prämisse folgen: "In jedem weise geordneten Universum zieht das Streben nach Erreichung das Erfordernis der Erreichung nach sich." Die Prämisse ist aber offensichtlich falsch; ein Wunsch, einen Mord zu begehen, zieht nicht die Pflicht nach sich, den Mord zu begehen, und schon gar nicht in einem weise geordneten Universum. Man mag aber einwenden, daß die Prämisse richtig ist, wenn das Streben gut, naturhaft und spontan ist. Aber diese Behauptung hat ihre Voraussetzungen. In einem Universum statischer horizontaler Schichten, wie es von der autonomen abstrakten Physik, der autonomen abstrakten Chemie, der autonomen abstrakten Biologie usw. ins Auge gefaßt wird, würden die Tendenzen und Wünsche, die auf einer Ebene naturhaft und spontan sind, auf diese Ebene beschränkt bleiben müssen; weil sie auf ihre eigene Ebene beschränkt bleiben würden, könnten und würden sie auf ihrer Ebene erfüllt werden; und weil sie auf ihrer eigenen Ebene erfüllt werden könnten und würden, wäre es auch richtig zu behaupten, daß in einem weise geordneten Universum statischer horizontaler Schichten das Streben nach Erreichung das Erfordernis nach Erreichung nach sich zieht. Es müßte dann allerdings noch gezeigt werden, daß dieses Universum einem Satz abstrakter und unverbundener Wissenschaften entspricht und so in einem Satz statischer horizontaler Schichten besteht. Tatsache scheint es zu sein, daß dieses Universum konkret ist und daß logisch unverbundene Wissenschaften intelligent durch eine Reihenfolge höherer Gesichtspunkte miteinander verbunden sind. Neben den Tendenzen und Wünschen, die auf eine gegebene Ebene beschränkt sind, gibt es demnach die Tendenzen und Wünsche, die jede gegebene Ebene übersteigen; sie sind die Wirklichkeit der Finalität, die als aufwärts aber unbestimmt gerichtete Dynamik aufgefaßt wurde; und weil diese Dynamik der Finalität ihre aufeinanderfolgenden Ziele statistisch erreicht; weil die Wahrscheinlichkeiten abnehmen, wenn die Erreichung zunimmt, ist die Implikation einer unbeschränkten Erreichung im unbeschränkten Streben weder eine Notwendigkeit noch eine Erfordernis, sondern höchstens eine geringfügige Wahrscheinlichkeit. (Fs)
718a Wenn auch die Klärung dessen, was das uneingeschränkte Streben nicht ist, mit Mühe verbunden ist, ist es doch relativ einfach anzugeben, was es ist. Der Mensch sucht vollständig zu verstehen. Und wie der Verstehenswunsch das Gegenteil von Totalobskurantismus ist, so ist der unbeschränkte Verstehenswunsch das Gegenteil jedes auch nur teilweisen Obskurantismus, wie gering er auch sein mag. Die Zurückweisung des Totalobskurantismus bedeutet die Forderung, daß einigen Fragen zumindest nicht mit dem willkürlichen Aufruf "vergessen wir es doch!" zu begegnen ist. Die Ablehnung jedes einzelnen Teilobskurantismus bedeutet die Forderung, daß keine einzige Frage willkürlich angegangen werden darf, daß jede Frage dem Prozeß des intelligenten Erfassens und kritischen Reflektierens unterworfen werden muß. Das uneingeschränkte Streben schließt dann also negativ die unintelligente und unkritische Zurückweisung jeder Frage aus und verlangt positiv die intelligente und kritische Behandlung jeder Frage. (Fs)
719a Die Existenz dieses uneingeschränkten Strebens kann auch nicht bezweifelt werden. Weder jahrhundertelange Forschung noch enorme Bibliotheken voller Antworten lassen eine abnehmende Tendenz des Stroms weiterer Fragen erkennen. Philosophien und Gegenphilosophien haben sich vervielfacht, aber sie alle - seien sie intellektualistisch oder antiintellektualistisch, verkünden sie nun die Herrschaft der Vernunft oder treten für das Denken mit dem Blut ein - schließen kein Feld der Untersuchung aus, ohne erst zu beweisen, daß der Aufwand nutzlos oder entnervend oder irreführend oder illusorisch sei. Und in dieser Hinsicht können wir darauf vertrauen, daß die Zukunft der Vergangenheit ähnlich sein wird; denn außer wenn einer im Namen von Dummheit und Blödheit auftritt, wird er nicht in der Lage sein zu behaupten, daß einige spezifizierte oder unspezifizierte Fragen beiseite zu wischen sind, obwohl es keinen Grund dafür gibt. (Fs)
719b Die Analyse führt zu derselben Konklusion. Denn außer dem Sein gibt es nichts. Die Aussage ist analytisch; denn sie kann ohne inneren Widerspruch nicht verneint werden. Wenn es außer dem Sein etwas gäbe, dann würde dieses Etwas -sein; und wenn dieses Etwas wäre, wäre es ein anderer Fall von Sein und somit nicht außerhalb des Seins. Ferner, das Sein ist das Zielobjekt des unvoreingenommenen und uneingeschränkten Erkenntnisstrebens; dieses Streben begründet die Untersuchung und die Reflexion; die Untersuchung führt zum Verstehen, die Reflexion fuhrt zur Bejahung; und das Sein ist all das, was intelligent erfaßt und vernünftig bejaht werden kann. Das Sein aber ist unbeschränkt; denn außer ihm gibt 639 es nichts. Das Zielobjekt des unvoreingenommenen und uneigennützigen Strebens ist deshalb unbeschränkt. Ein Streben mit einem unbeschränkten Objekt aber ist ein unbeschränktes Streben, und damit ist das Erkenntnisstreben uneingeschränkt. (Fs)
719c Die introspektive Reflexion bringt uns nochmals zu derselben Behauptung. Denn was immer gelten mag für die kognitiven Bestrebungen anderer, könnte meine eigene nicht radikal beschränkt sein? Könnte nicht mein Wunsch nach korrektem Verstehen an einer immanenten und verborgenen Beschränktheit und Befangenheit kranken, so daß es reale Dinge geben könnte, die völlig jenseits seines äußersten Horizontes liegen? Könnte es nicht so sein? Und doch, wenn ich die Frage stelle, geschieht dies kraft meines Erkenntnisstrebens; und wie die Frage selbst offenbart, beschäftigt sich mein Erkenntnisstreben mit dem, was völlig jenseits eines vermuteten beschränkten Horizontes liegt. Selbst mein Streben scheint uneingeschränkt zu sein. (Fs)
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