Autor: Guardini, Romano Buch: Das Ende der Neuzeit Titel: Das Ende der Neuzeit Stichwort: Religiosität der kommenden Zeit 3; neuzeitliche Unredlichkeit; Bedeutung: Altes Testament; Einsamkeit im Glauben
Kurzinhalt: Die Einsamkeit im Glauben wird furchtbar sein. Die Liebe wird aus der allgemeinen Welthaltung verschwinden (Mt 24, 12). Sie wird nicht mehr verstanden noch gekonnt sein. Um so kostbarer wird sie werden, wenn sie vom Einsamen zum Einsamen geht ... Textausschnitt: 112c Der christliche Glaube selbst aber wird eine neue Entschiedenheit gewinnen müssen. Auch er muß aus den Säkularisationen, den Ähnlichkeiten, Halbheiten und Vermengungen heraus. Und hier ist, scheint mir, ein starkes Vertrauen erlaubt. (Fs)
113a Es ist dem Christen immer eigentümlich schwer gefallen, sich mit der Neuzeit abzufinden. Damit wird ein Problem angeschnitten, das einer genaueren Erörterung bedürfte. Es ist nicht gemeint, das Mittelalter sei als geschichtliche Epoche einfachhin christlich, die Neuzeit hingegen unchristlich gewesen. Das wäre jene Romantik, die schon so viel Verwirrung angerichtet hat. Das Mittelalter wurde von einer Struktur des Denkens, Empfindens und Handelns getragen, die zunächst und als solche der Glaubensentscheidung gegenüber - soweit man dergleichen sagen kann - neutral war. Für die Neuzeit gilt das Nämliche. In ihr trat der abendländische Mensch in die Haltung individueller Selbständigkeit ein, womit über den sittlich-religiösen Gebrauch, den er von dieser Selbständigkeit machte, noch nichts gesagt ist. Christ zu sein ruht auf einer Stellungnahme zur Offenbarung, die in jedem Abschnitt der geschichtlichen Entwicklung vollzogen werden kann. Mit Bezug auf sie ist die Offenbarung jeder Epoche gleich nah und gleich fern. So hat es denn auch im Mittelalter Unglauben in allen Graden der Entschiedenheit gegeben - ebenso wie es in der Neuzeit eine vollwertige christliche Gläubigkeit gegeben hat. Diese hatte aber einen anderen Charakter als jene des Mittelalters. Dem Christen der Neuzeit war aufgegeben, seinen Glauben aus den geschichtlichen Voraussetzungen der individuellen Selbständigkeit heraus zu verwirklichen, und er hat das oft in einer Weise getan, welche der mittelalterlichen durchaus ebenbürtig war. Dabei begegnete er aber Hindernissen, die es ihm schwer machten, seine Zeit so einfach hinzunehmen, wie die voraufgellende Epoche es gekonnt hatte. Die Erinnerung an ihre Auflehnung gegen Gott war zu lebendig; die Art, wie sie alle Bereiche des kulturellen Schaffens in Widerspruch zum Glauben gebracht, und diesen selbst in eine Situation der Minderwertigkeit gedrängt hatte, war zu fragwürdig. Außerdem gab es das, was wir die neuzeitliche Unredlichkeit genannt haben: jenes Doppelspiel, welches auf der einen Seite die christliche Lehre und Lebensordnung ablehnte, auf der anderen aber deren menschlich-kulturelle Wirkungen für sich in Anspruch nahm. Das machte den Christen in seinem Verhältnis zur Neuzeit unsicher. Überall fand er in ihr Ideen und Werte, deren christliche Herkunft deutlich war, die aber für allgemeines Eigentum erklärt wurden. Überall stieß er auf Christlich-Eigenes, das aber gegen ihn gekehrt wurde. Wie hätte er da vertrauen sollen? Diese Undurchsichtigkeiten werden aufhören. Wo die kommende Zeit sich gegen das Christentum stellt, wird sie damit ernst machen. Sie wird die säkularisierten Christlichkeiten für Sentimentalitäten erklären, und die Luft wird klar werden. Voll Feindschaft und Gefahr, aber sauber und offen1. (Fs)
114a Was oben über die Situation der Gefahr gesagt worden ist, gilt auch für die christliche Haltung. Sie wird in besonderer Weise den Charakter des Vertrauens und der Tapferkeit tragen müssen. (Fs)
115a Man hat dem Christentum oft vorgeworfen, in ihm berge sich der Mensch vor der Ausgesetztheit der modernen Situation. Daran war manches richtig - und nicht nur deshalb, weil das Dogma in seiner Objektivität eine feste Ordnung des Denkens und Lebens schafft, sondern auch, weil in der Kirche noch eine Fülle kultureller Traditionen lebt, die sonst weggestorben sind. Der Vorwurf wird in der kommenden Zeit immer weniger Anlaß haben. (Fs)
115b Der Kulturbesitz der Kirche wird sich dem allgemeinen Zerfall des Überlieferten nicht entziehen können, und wo er noch fortdauert, wird er von vielen Problemen erschüttert sein. Was aber das Dogma angeht, so liegt es zwar in seinem Wesen, jede Zeitwende zu überdauern, da es ja im Überzeitlichen begründet ist; doch darf man vermuten, an ihm werde der Charakter der Lebensweisung besonders deutlich empfunden werden. Je genauer das Christentum sich wieder als das Nicht-Selbstverständliche bezeugt; je schärfer es sich von einer herrschenden nicht-christlichen Anschauung unterscheiden muß, desto stärker wird im Dogma neben dem theoretischen das praktisch-existentielle Moment hervortreten. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß damit keine »Modernisierung« gemeint ist; keinerlei Abschwächung weder des Inhalts noch der Geltung. Im Gegenteil, der Charakter der Absolutheit, die Unbedingtheit der Aussage wie der Forderung werden sich schärfer betonen. Aber in dieser Absolutheit wird, vermute ich, die Definition der Existenz und die Orientierung des Verhaltens besonders fühlbar werden. (Fs)
116a So wird der Glaube fähig, in der Gefahr zu bestehen. Im Verhältnis zu Gott wird das Element des Gehorsams stark hervortreten. Reiner Gehorsam, wissend, daß es um jenes Letzte geht, das nur durch ihn verwirklicht werden kann. Nicht, weil der Mensch »heteronom« wäre, sondern weil Gott heilig-absolut ist. Eine ganz unliberale Haltung also, mit Unbedingtheit auf das Unbedingte gerichtet, aber - und hier zeigt sich der Unterschied gegen alles Gewaltwesen - in Freiheit. Diese Unbedingtheit ist keine Preisgabe an die physische und psychische Macht des Befehls; sondern der Mensch nimmt durch sie die Qualität der Gottesforderung in seinen Akt auf. Das aber setzt Mündigkeit des Urteils und Freiheit der Entscheidung voraus. (Fs)
116b Und ein nur hier mögliches Vertrauen. Nicht auf eine allgemeine Vernunftordnung, oder auf ein optimistisches Prinzip des Wohlmeinens, sondern auf Gott, der wirklich und wirkend ist; nein, mehr, der am Werk ist und handelt. Wenn ich recht sehe, gewinnt das Alte Testament eine besondere Bedeutung. Es zeigt den Lebendigen Gott, der den mythischen Weltbann ebenso durchbricht wie die heidnisch-politischen Weltmächte, und den glaubenden Menschen, der, im Einvernehmen des Bundes, sich auf dieses Handeln Gottes bezieht. Das wird wichtig werden. Je stärker die Es-Mächte anwachsen, desto entschiedener besteht die »Weltüberwindung« des Glaubens in der Realisation der Freiheit; im Einvernehmen der geschenkten Freiheit des Menschen mit der schöpferischen Freiheit Gottes. Und im Vertrauen auf das, was Gott tut. Nicht nur wirkt, sondern tut. Es ist seltsam, welch eine Ahnung heiliger Möglichkeit mitten im Anwachsen des Welt-Zwanges aufsteigt!
117a Diese Beziehung von Absolutheit und Personalität, von Unbedingtheit und Freiheit wird den Glaubenden fähig machen, im Ortlosen und Ungeschützten zu stehen und Richtung zu wissen. Sie wird ihn fähig machen, in ein unmittelbares Verhältnis zu Gott zu treten, quer durch alle Situationen des Zwanges und der Gefahr hindurch; und in der wachsenden Einsamkeit der kommenden Welt - einer Einsamkeit gerade unter den Massen und in den Organisationen - lebendige Person zu bleiben. (Fs) (notabene)
Wenn wir die eschatologischen Texte der Heiligen Schrift richtig verstehen, werden Vertrauen und Tapferkeit überhaupt den Charakter der Endzeit bilden. Was umgebende christliche Kultur und bestätigende Tradition heißt, wird an Kraft verlieren. Das wird zu jener Gefahr des Ärgernisses gehören, von welcher gesagt ist, daß ihr, »wenn es möglich wäre, auch die Auserwählten erliegen würden« (Mt 24, 24). (Fs)
117b Die Einsamkeit im Glauben wird furchtbar sein. Die Liebe wird aus der allgemeinen Welthaltung verschwinden (Mt 24, 12). Sie wird nicht mehr verstanden noch gekonnt sein. Um so kostbarer wird sie werden, wenn sie vom Einsamen zum Einsamen geht; Tapferkeit des Herzens aus der Unmittelbarkeit zur Liebe Gottes, wie sie in Christus kund geworden ist. Vielleicht wird man diese Liebe ganz neu erfahren: die Souveränität ihrer Ursprünglichkeit, ihre Unabhängigkeit von der Welt, das Geheimnis ihres letzten Warum. Vielleicht wird die Liebe eine Innigkeit des Einvernehmens gewinnen, die noch nicht war. Etwas von dem, was in den Schlüsselworten für das Verständnis der Vorsehungsbotschaft Jesu liegt: daß um den Menschen, der Gottes Willen über Sein Reich zu seiner ersten Sorge macht, die Dinge sich wandeln (Mt 6, 33). (Fs)
118a Dieser eschatologische Charakter wird sich, scheint mir, in der kommenden religiösen Haltung anzeigen. Damit soll keine wohlfeile Apokalyptik verkündet werden. Niemand hat das Recht zu sagen, das Ende komme, wenn Christus selbst erklärt hat, die Dinge des Endes wisse der Vater allein (Mt 24, 36). Wird also hier von einer Nähe des Endes gesprochen, dann ist das nicht zeithaft, sondern wesensmäßig gemeint: daß unsere Existenz in die Nähe der absoluten Entscheidung und ihrer Ronsequenzen gelangt; der höchsten Möglichkeiten wie der äußersten Gefahren. (Fs; E10 20.03.2010)
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