Autor: Menke, Karl-Heinz Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ Stichwort: Der Subjektivismus des Verstandes: Kubismus (analytisch, synthetisch) und Konstruktivismus (Hegel); Gris, Braque, Picasso; Cézanne; Mondrian, van Doesburg
Kurzinhalt: Die Konstruktivisten propagieren eine durch exakte Mathematik erzielte Aufhebung alles Individuellen in das Universelle. Der Konstruktivismus kann mit dem hegelianischen Ziel der Aufhebung aller Gegensätze verglichen werden; er hat etwas Verzweifeltes ... Textausschnitt: ab Der Subjektivismus des Verstandes: Kubismus und Konstruktivismus
44a Der kubistische begnügt sich im Unterschied zum impressionistischen Künstler nicht mit der von Kant inspirierten Feststellung, daß das wahrnehmende Subjekt das «Ding an sich» erst zum Gegenstand macht; sondern er möchte sichtbar machen, was das wahrnehmende Subjekt zur Konstituierung eines Gegenstandes beiträgt. Nicht also um den Gegenstand zu supremieren (wie Malewitsch irrtümlich meinte), sondern um all das sichtbar zu machen, was das wahrnehmende Subjekt mitdenkt, wenn es etwas als Gegenstand identifiziert, zerlegt der kubistische Maler sein Bild in «Kuben» bzw. Formen, aus denen der Betrachter den Gegenstand durch Realisierung derselben Logik zusammensetzen muß, mit der ihn der Künstler zerlegt hat. Weil jedes kubistische Kunstwerk seine Mathematik hat, wird der Kubismus auch als «art conceptuel» definiert. Juan Gris (1887-1927), der sich mit Georges Braque (1882-1963) und Pablo Picasso (1881-1973) als Vertreter des synthetischen im Unterschied zum bloß analytischen Kubismus des späten Paul Cézanne (1839-1906) versteht1, sagt über seine Maltechnik: «Ich versuche das, was abstrakt ist, zu konkretisieren; ich entwickle aus dem Allgemeinen das Besondere; d. h. ich gehe aus von etwas Abstraktem, um von da aus das Reale zu erreichen. [...] Cézanne macht aus einer Flasche einen Zylinder; ich dagegen gehe vom Zylinder aus, um etwas ganz Bestimmtes zu schaffen, aus einem Zylinder eine Flasche, eine ganz bestimmte Flasche.»2 Ähnlich bemerkt Albert Gleizes (1881-1953) über seinen Kubismus, daß er von den allgemeinen Elementen der Geometrie ausgehe, um von daher die einzelne Gestalt als Konkretisation eines Allgemeinen darzustellen3. Dieses Allgemeine entspricht den synthetischen Urteilen apriori in Kants Erkenntnislehre. Der einzelne Gegenstand verdankt sich der Konstruktion durch das darstellende Bewußtsein. Der Verstand greift mittels seiner Anschauungsformen und Kategorien über alle endlichen Gestalten hinaus, kann aber niemals den Zusammenhang alles Einzelnen, sondern immer nur eine konkrete Gestalt des Allgemeinen erfassen. Insofern spiegelt auch die kubistische Malerei den besagten Hiatus zwischen dem, was dem einzelnen Subjekt zugänglich ist (»Sinn für mich»), und dem, was alles Konkrete nicht nur übersteigt, sondern auch verbindet (»Sinn an sich»). (Fs)
Kommentar (14.03.10): Zu oben: "Dieses Allgemeine entspricht den synthetischen Urteilen apriori in Kants Erkenntnislehre." Das Allgemeines oben entspricht den Kantischen Anschauungsformen und Kategorien; dem synthetischen Urteil a priori entspräche das Konkrete.
46a Weil der Gegenstand des kubistischen Malers ein Konstrukt ist, versteht sich von selbst, daß der vor allem von den Niederländern Theo van Doesburg (1883-1931) und Piet Mondrian (1872-1944) repräsentierte Konstruktivismus als Komparativ des Kubismus zu verstehen ist. Die Konstruktivisten wollen das, was die Kubisten in Analogie zu den transzendentalen Anschauungsformen und Kategorien der Kantschen Erkenntnislehre das Allgemeine nennen, nicht länger in der Konkretion bestimmter Gegenstände darstellen. Sie lassen eine gewisse Affinität zum Suprematismus erkennen. Doch während Kasimir Malewitsch in reiner Passivität bzw. Rezeptivität den Weg zum Verzicht des Subjekts auf jede Vergegenständlichung der Natur sieht, wollen die Konstruktivisten dasselbe Ziel (Gegenstandslosigkeit) durch eine Art Mathematik erreichen, durch die unbedingte Ausbalancierung der Gegensätze von vertikal und horizontal, breit und schmal, groß und klein4. In bezug auf die Architektur seiner Zeit bemerkt Mondrian: Man sieht, wie sie «sich läutert und vereinfacht, aber nur selten, daß sie den plastischen Ausdruck des Abstrakten verwirklicht. Als unmittelbare Erscheinung des Universellen macht die abstrakte Gestaltung das Individuelle unwirksam»5. Die Konstruktivisten propagieren eine durch exakte Mathematik erzielte Aufhebung alles Individuellen in das Universelle. Der Konstruktivismus kann mit dem hegelianischen Ziel der Aufhebung aller Gegensätze verglichen werden; er hat etwas Verzweifeltes an sich, weil er durch das Subjekt die Grenzen der Subjektivität sprengen will, weil er den «Sinn an sich» machen bzw. konstruieren will. (Fs)
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Fußnote zu oben 4:
«Der große Fortschritt des exakt gestalteten Kunstwerks besteht darin, daß das ästhetische Gleichgewicht durch reine Kunstmittel und durch nichts anderes erreicht wird. Im exakt gestalteten Kunstwerk kommt die Gestaltungsidee zu einem unmittelbaren realen Ausdruck durch ständige Aufhebung der Ausdrucksmittel: so wird horizontale Lage durch vertikalen Stand aufgehoben, ebenso das Maß (groß durch klein) und die Proportion (breit durch schmal). Eine Fläche wird aufgehoben durch eine sie begrenzende oder eine zu ihr in Beziehung stehende Fläche usw., dasselbe gilt für die Farbe: eine Farbe wird durch eine andere (z. B. Gelb durch Blau, Weiß durch Schwarz) aufgehoben, eine Farbgruppe durch eine andere Farbgruppe und alle Farbflächen werden aufgehoben durch nicht-farbige Flächen und umgekehrt.» (Th. van Doesburg, Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst, hrsg. v. H. M. Wingler, Mainz-Berlin 1966, 33).
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