Autor: Menke, Karl-Heinz Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ Stichwort: Dostojewskij, Die Brüder Karamasow (Iwan, Aljoscha); Sinn: für mich - an sich; Resignation vor dem Unbedingten Kurzinhalt: Mir scheint, daß die fast ganz Europa überziehende, auch ehemals kernkatholische Familien nicht verschonende Verdunstung des Glaubens einer ähnlichen Haltung entspringt, wie sie Iwan in Dostojewskijs Roman «Die Brüder Karamasow» einnimmt. Textausschnitt: 12a Dostojewskij hat in mehreren seiner Romane und Novellen gezeigt, daß jeder Mensch - ob er sich dessen bewußt ist oder nicht - eine Welt postuliert, in der kein einziges Menschenschicksal, nicht einmal eine Sekunde der Zeit, nicht ein einziges Atom des Kosmos, aus dem Zusammenhang herausfällt, den wir mit dem Wörtchen «Sinn» bezeichnen. In Dostojewskijs Roman «Die Brüder Karamasow» sagt Iwan zu seinem tief gläubigen Bruder Aljoscha, daß er aus den Nachrichten immer ganz bestimmte Dinge sammle, die nach seiner Meinung mit einer guten Schöpfung ganz einfach unvereinbar sind. Mit einem Zeitungsbericht über das Eindringen der Türken in Bulgarien tritt er auf Aljoscha zu und sagt: «Stell dir vor: ein Säugling in den Armen seiner zitternden Mutter, ringsherum die eingedrungenen Türken. Sie haben sich etwas Lustiges ausgedacht: sie liebkosen das kleine Kind, lachen es an, um es zum Lachen zu bringen, und es gelingt ihnen, der Säugling lacht. In diesem Augenblick richtet ein Türke aus nächster Nähe eine Pistole auf das Gesicht des Kindes. Der kleine Junge lacht freudig, streckt die Ärmchen aus, um nach der Pistole zu greifen, und plötzlich drückt dieser Tausendsasa die Pistole ab, dem Kinde mitten ins Gesicht, und zerschmettert ihm das Köpfchen ... virtuos nicht wahr?» Und dann: «[...] ich habe sehr, sehr viel über russische Kinder gesammelt, Aljoscha. Da wurde zum Beispiel ein fünfjähriges kleines Mädchen von ihrem Vater und ihrer Mutter gehaßt, die <sehr ehrenwerte, gebildete und wohlerzogene Leute aus dem Beamtenstand> waren. [...] Dieses fünfjährige Mädchen wurde von ihren gebildeten Eltern allen möglichen Mißhandlungen unterzogen. Sie schlugen es, peitschten es, stießen es mit Füßen, ohne selbst zu wissen weswegen, bis sein ganzer Körper mit blauen Flecken bedeckt war; schließlich dachten sie sich eine ganz raffinierte Folter aus: in der Kälte, bei Frost, sperrten sie das Kind die ganze Nacht über im Abtritt ein, und das dafür, weil es sich nachts nicht gemeldet hatte - als ob ein fünfjähriges Kind, das seinen engelsreinen tiefen Schlaf schläft, in diesem Alter lernen könnte, sich zu melden! -, sie beschmierten ihm zur Strafe dafür das ganze Gesicht mit seinem eigenen Kot und zwangen es, diesen Kot zu essen, dazu zwang es die Mutter, die eigene Mutter! Und diese Mutter konnte schlafen, während nachts das arme Kind stöhnte, das in dem gemeinen Ort eingesperrt war. Kannst du das fassen: ein kleines Geschöpf, das noch nicht einmal begreifen kann, was mit ihm geschieht, schlägt sich an dem gemeinen Ort, in Dunkelheit und Kälte, mit seinen winzigen Fäustchen an die Brust und fleht mit arglosen sanften Tränen seinen <lieben Gott> an, Er solle es beschützen - kannst du diesen Aberwitz fassen, mein Freund und Bruder, du mein demütiger Gottesnovize, kannst du es fassen, wozu dieser Aberwitz notwendig und geschaffen ist?»1 Aljoscha, «sage mir geradeheraus, ich fordere dich dazu auf, antworte: stell dir vor, du selbst errichtetest das Gebäude des Menschenschicksals mit dem Endziel, die Menschen zu beglücken, ihnen endlich Frieden und Ruhe zu geben, aber du müßtest dazu unbedingt und unvermeidlich nur ein einziges winziges Geschöpf zu Tode quälen, beispielsweise jenes kleine Kind, das sich mit den Fäustchen an die Brust schlug, und auf seine ungerächten Tränen dieses Gebäude gründen - wärest du unter dieser Bedingung bereit, der Architekt zu sein? Sag es, ohne zu lügen!> - <Nein, ich wäre nicht bereit>, sagte Aljoscha leise.»2 |