Autor: Sertillanges A. D. (Gilbert) Buch: Der heilige Thomas von Aquin Titel: Der heilige Summa von Aquin Stichwort: Das Übel; Ü.: Mangel - Verneinung; Beispiel: Blindheit Kurzinhalt: Das Übel ist also keine eigentliche Naturwirklichkeit; es ist kein Sein. Wenn es ein solches wäre, ... Kann man nun daraus, daß das Übel keine Naturwirklichkeit ist, schließen, daß es überhaupt nicht ist?
Textausschnitt: Das Übel
157 Das Wesen des Übels [des Bösen] läßt sich offensichtlich von dem Guten aus, dessen Gegensatz es darstellt, begreifen. Das Gute ist seinem Wesen nach begehrenswert; alles, was begehrenswert ist, ist also gut. Ein Übel kann also nur dasjenige sein, was in keiner Weise Gegenstand eines Begehrens sein kann. Etwas derartiges gibt es aber unter den positiven Wirklichkeiten der Natur nicht; das Übel muß daher in der Sphäre des Nicht-Seins liegen. (70f; Fs)
158 Da alles, was ist, sein eigenes Sein wünscht und zu erhalten sucht, so ist zu schließen, daß alles, was ist, allein dadurch, daß es ist, in gewisser Weise zu begehren ist; das Begehren entscheidet also eigentlich über das Gute, dessen Wesenheit sein eigentlicher Gegenstand ist.1 (71; Fs)
159 Auf der andern Seite zeigt jedes Sein eine Tätigkeit und infolgedessen irgendeine natürliche Neigung; jedes Sein ist also auf etwas außer ihm Liegendes hingerichtet, und dieses Etwas ist für es ein Gut. Das Übel aber an sich ist nicht auf ein Gut hingerichtet, da das Gute und das Böse einander entgegengesetzt sind. Es gibt also kein Sein, dem das Böse in ausschließlicher Weise entsprechen könnte. Das Übel ist also keine eigentliche Naturwirklichkeit; es ist kein Sein. Wenn es ein solches wäre, so wäre es unmöglich, daß es weder begehrte noch begehrt würde und infolgedessen weder handelte noch sich bewegte; denn jede aktive oder passive Tätigkeit geschieht mit Rücksicht auf ein Ziel, das will heißen: mit Rücksicht auf ein Gut. Das Sein also, das weder handelt noch leidet, ist nur eine Chimäre: in der Wirklichkeit gibt es derartiges nicht2. (71; Fs) (notabene)
160 Kann man nun daraus, daß das Übel keine Naturwirklichkeit ist, schließen, daß es überhaupt nicht ist? Das hieße einen berechtigten Sinn des Wortes Sein verkennen. Dieses Wort schließt zwei Bedeutungen ein. Es kann entweder den Seinsgehalt eines Dinges selbst bezeichnen - und in diesem Sinne redet man vom Sein, wenn man die Kategorien aufstellt -, oder aber die Wahrheit eines Satzes bedeuten, die in einer durch den Geist [der Ordnung der Dinge entsprechend] vollzogenen Zusammensetzung besteht -; dies drückt das Wort Sein aus, wenn auf die Frage: Ist dieses Ding geantwortet wird. Das Sein im letzten Sinne erstreckt sich also über die Sphäre der Naturwirklichkeit hinaus. (71; Fs) (notabene)
161 So sagt man: die Bejahung 'ist' der Gegensatz der Verneinung, und damit wird 'in der Wirklichkeit' nichts gesetzt. Ebenso sagt man: die Blindheit 'ist', und man will damit ausdrücken, daß das Auge von ihr betroffen ist, man will aber nicht behaupten, daß die Blindheit etwas Seinshaftes im eigentlichen Sinne ist. In diesem Sinn also darf man von dem Übel sagen: es 'ist', das heißt als ein 'Mangel', und dieses Wort Mangel trifft genau das, was hier bezeichnet werden soll3. (71; Fs)
162 Wir sagen 'Mangel' und nicht 'Verneinung', weil das letztere, das nichts irgendwie inhaltlich Bestimmtes ausdrückt, eben dies sehr wohl existierende und bestimmte Etwas nicht zu bezeichnen vermag, das Wir das Übel nennen. Der Verfasser der Göttlichen Namen hat in dem Sinne gesagt, daß das Übel dem Sein fernsteht, aber daß es dem Nicht-Sein noch ferner steht. Es ist also nicht eine Verneinung4. Die Verneinung ist in Wahrheit etwas Unendliches. Man kann sie einem Sein, soweit man will, zuschreiben, ohne daß es irgendwie bestimmt und als gut oder böse davon berührt würde. (72; Fs) (notabene)
163 Wenn die reine und bloße Abwesenheit eines Guten ein Übel wäre, so wäre zwar das, was nicht ist, ein Übel; aber ebenso wären alle Dinge ein Übel, einfach deshalb, weil jedem einzelnen von ihnen die Vollkommenheiten der andern felhten. So wäre der Mensch ein Übel, weil er nicht die Lebhaftigkeit der Ziege und die Kraft des Löwen; hat. Anders aber verhält es sich mit dem 'Mangel', der das Gute verneint bei einem Wesen, das dieses Gute haben müßte, wie die Blindheit die Sehfähigkeit bei einem von Natur aus mit ihr begabten Wesen verneint. (72; Fs)
164 Ein solches Wesen, das mit einem Mangel behaftet ist, ist nun notwendigerweise ein Sein, ein mögliches oder wirkliches; da aber das Sein als solches gut ist, so folgt also aus der Natur des Übels selbst, daß es sich nur an einem Guten finden kann. So also hat die Blindheit, die ein relatives Übel ist, zum Träger einen schon bestehenden und darum guten Organismus. So haben auch die Vernichtung und der Tod, die höchsten Übel des physischen Seins, zum Träger die erste Materie, die - insoweit sie positive Möglichkeit ist - ein Gut ist, da sie eben dadurch auf ein Gut hingeordnet ist, daß sie auf das Sein hingeordnet ist5. (72; Fs)
165 Hieraus folgt ferner, daß das Übel bei seinem Träger niemals eine derartige Bedeutung gewinnen kann, daß es das Gut vollständig aufzehrte. Man kann unter diesem Gesichtspunkt bei dem Wesen, das von dem Übel betroffen wird, ein dreifaches Gut unterscheiden: zunächst ein Gut, das offensichtlich von dem Übel unterdrückt wird; es ist jenes, das ihm genau entgegengesetzt ist: so wird das Gut des Sehens durch das Übel der Blindheit vollständig unterdrückt; daher ist auch nicht das Sehen selbst der Träger der Blindheit, sondern das des Sehens fähige Wesen, das Lebewesen6; (72f; Fs)
166 dann ein zweites Gut, das durch das Übel weder unterdrückt noch selbst gemindert wird; das ist der Träger als solcher selbst; dieser kann nämlich, da er das Übel gewissermaßen 'trägt', nicht zugleich von ihm betroffen werden: die Finsternis ändert nichts an der Substanz der Luft; die Blindheit als solche macht es dem Lebewesen nicht unmöglich zu leben, und der Tod selbst berührt in keiner Weise die Materie; (73; Fs)
167 endlich ein drittes Gut, das immer durch das Übel, das den Träger gewisser Kräfte 'beraubt', gemindert wird; es besteht in der Fähigkeit des Trägers, seine Anlagen zur Verwirklichung zu bringen. Diese Minderung des Guten darf jedoch nicht so aufgefaßt werden, als ob hier quantitativ etwas weggenommen würde, so daß schließlich bei einer vielfachen Wiederholung das ganze Kräftekapital aufgezehrt würde; sondern es handelt sich um eine Minderung, eine 'Schwächung' [remissio], wie sie bei den Qualitäten und den Formen vorliegen kann. (73; Fs)
168 Die Anlagen der Materie sind für ein Sein gewisse Vorbedingungen seiner Tätigkeit; wenn diese Anlagen sich vervollkommnen, so erhöht sich die Tätigkeit; wenn sie dagegen abnehmen, so nimmt das Tätigkeitsvermögen mit ihnen ab. Nun gibt es aber Fälle, in denen die Abnahme der materiellen Anlagen eine von der Natur der Dinge selbst gesetzte Grenze hat, und andere, wo dies nicht der Fall ist; allein es ist klar, daß, solange der Träger bleibt, diese Anlagen nicht völlig unterdrückt werden können, da sie in ihrer Wurzel wenigstens, das heißt: in dem in sich bestehenden Träger selbst, fortbestehn7. (73; Fs)
169 Das Problem des Übels ist das Kreuz der Philosophen; seinen beängstigenden Charakter hat es jedoch nicht in der Metaphysik. Wir werden anderswo darauf zurückkommen8. Für den Augenblick mag es genügen, die wesentlichen Punkte festgestellt zu haben. Wir wollen hier unsere vorläufigen Betrachtung der Transzendentalien abbrechen; sie werden uns immer wieder beschäftigen. (73f; Fs)
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