Datenbank/Lektüre


Autor: Sertillanges A. D. (Gilbert)

Buch: Der heilige Thomas von Aquin

Titel: Der heilige Summa von Aquin

Stichwort: Transzendentalien: das Gute (bonum); Das Gute - Sein (Akt, Potenz); Thomas, Plato; Möglichkeit, Potnez - privatio (Irrtum: Plato); bonum non univoce dicitur de bonis; modus, species, ordo; utile, delectabile, honestum; Ziel (2-fach)



Kurzinhalt: Man kann ein Sein auf zweierlei Weise betrachten: erstens in Hinsicht auf seine ideale Natur oder Wesenheit, zweitens in Hinsicht auf die Wirklichkeit, die an dieser Natur Anteil hat ... Das Sein, 'insofern es begehrt wird', ist das Gute.

Textausschnitt: 127 Das dritte Attribut des Seins unterscheidet sich von dem zweiten auf die folgende Weise. Man kann ein Sein auf zweierlei Weise betrachten: erstens in Hinsicht auf seine ideale Natur oder Wesenheit, zweitens in Hinsicht auf die Wirklichkeit, die an dieser Natur Anteil hat. (65;Fs)

128 Wenn nun das Sein zu uns Beziehung hat als unser Maß und unsere Vervollkommnung, so kann dies in doppelter Weise geschehn: Entweder vervollkommnet es uns, insoweit es Natur ist [secundum rationem speciei], und dann betrachten wir es unter dem Gesichtspunkt des Wahren; oder aber es vervollkommnet uns, insoweit es eine Naturwirklichkeit ist [secundum esse quod habet in rerum natura], und dann ist es das Gute. Daher haben wir von dem Wahren gesagt, daß es zuerst und eigentlich in uns ist [verum est in mente], von dem Guten dagegen, daß es in sich ist und uns anzieht [bonum in rebus est; bonum habet rationem finis]1. (65;Fs) (notabene)

129 Dieser Grundbegriff ist näher zu betrachten. Das Gute ist das, wonach jedes Ding begehrt, hat Aristoteles gesagt. Diese schöne Definition, die Thomas ungezählte Male wiederholt, ist für ihn die Grundlage all seiner Sätze über diesen Gegenstand2. Das Gute ist also das Begehrenswerte; wer die Quelle des Begehrens aufdeckt, der hilft, das Gute selbst zu definieren. (65;Fs)

130 Was macht ein Ding begehrenswert, wenn nicht seine Vollkommenheit? Sucht nicht jedes Ding das, was es in dieser oder jener Hinsicht vervollkommnen kann? Die erste Vollkommenheit eines jeden Dinges aber ist sein Wirklichsein selbst [in tantum est perfectum unumquodque, in quantum est actu]. (65;Fs)

131 Das mögliche Sein [das Sein in Potenz] ist als solches noch keinerlei Vollkommenheit. Das Wirklichsein aber im allgemeinsten Sinn ist das Sein. Das transzendentale Sein, vor jeder Einteilung in Kategorien oder derartiges, ist also die Substanz des Guten selbst [bonum et ens convertuntur secundum supposita]3, und wir haben so - durch den Gegenbeweis - die Identität, von der wir ausgegangen waren, um die Beschaffenheit des Seins zu bestimmen und seine Attribute festzustellen. (65;Fs)

132 Das Sein, 'insofern es begehrt wird', ist das Gute. Infolge dessen kann man mit vollem Recht sagen: jedes Sein ist gut, vorausgesetzt, daß man hinzufügt: Genau insoweit als es ein Sein ist4. Das Böse findet sich allein in der Sphäre des Mangels [privatio], und wo alles Gute völlig fehlt, da ist eben das Nichts. (65f; Fs)

133 Es ist indessen folgendes zu bemerken: Gerade weil das Sein und das Gute zusammenfallen, sind sie in der Allgemeinheit gleich, und sie werden in paralleler Weise geteilt. Wenn - wie wir später sehn werden -5 das Sein in Potenz und Akt zerfällt, so folgt das Gute dieser Einteilung, und selbst die reine Materie wird gut sein, und auch die Hoffnung auf ein Gut wird ein Gut sein, dergestalt, daß auch das Nicht-Seiende auf eine gewisse Weise am Guten teilhat, unter der Voraussetzung jedoch, daß es nicht absolutes Nichtsein ist, sondern als 'Potenz' auf das Sein gleichsam aufgepfropft wird6. (66; Fs)

134 Durch die letzte Einschränkung wird der Irrtum der Platoniker berichtigt, die unter dem Vorwand, daß die reine Möglichkeit ein Nicht-Sein sei, den Bereich des Guten über den des Seins hinaus ausdehnten. Das kommt daher, daß sie die Materie nicht von dem Mangel [der 'Beraubung' = privatio] unterschieden, wie sich Aristoteles ausdrückt. Dieser letztere ist in der Tat reines Nicht-Sein; die Materie aber gehört schon zum Sein, denn sie ist wirkliches Werden, positive Möglichkeit7. (66; Fs) (notabene)

135 Von einem andern Gesichtspunkt aus kann das absolute Nicht-Sein bisweilen als ein Gut erscheinen; aber das ist eine Täuschung: denn die Analyse zeigt in diesem Fall, daß im Grunde das Sein das wirklich Begehrte ist. Wenn zum Beispiel irgendein Übel unerträglich ist, und man, um ihm in entrinnen, an das Nicht-Sein denkt, so kann einem dies als begehrenswert erscheinen. Aber in Wirklichkeit begehrt man doch die Unterdrückung des Übels, weil dieses Übel einen eben eines Gutes beraubt, dessen Verlust unerträglich ist. Man wünscht also das Nicht-Sein per accidens und in Hinsicht auf ein Gut; in Wirklichkeit richtet sich also das Begehren auf ein Sein, und dieses ist also immer das Gute8. (66; Fs)

136 Daraus, daß das Sein und das Gute zusammenfallen und daß je des Sein gut ist, gerade insofern es Sein ist, ergibt sich, daß Plato in die Irre ging, wenn er behauptete, alle Dinge seien gut durch Teilnahme am Guten - wobei er unter dem Guten ein An-sich-Seiendes verstand, eine der Ideen, und zwar die allgemeinste von allen, die selbst auf das Nicht-Sein zu wirken vermöchte, und ohne die kein Ding, selbst wenn es ein Sein wäre, gut sein könnte. (66f; Fs) (notabene)

137 Diese Behauptung fällt dahin, erstens weil es die Ideen an sich, wie Aristoteles überzeugend nachgewiesen hat, nicht gibt, zweitens, weil der Begriff der Teilnahme nur dann etwas erklären könnte, wenn - was eigentlich gerade Plato zugeben müßte - das Teilgenommene als das Gleiche in den vielen Teilnehmenden sich vorfände, nicht aber in jedem einzelnen Falle nach der Natur des teilnehmenden Wesens sich besonderte. (67; Fs)

138 Die Güte des Menschen ist nun aber der Mensch, die Güte des Baumes der Baum. Es gibt also keine allgemeine Güte [bonum non univoce dicitur de bonis]; es ging also - selbst in dem System der Ideen - nicht an, ein Gutes an sich außerhalb der Naturen zu setzen. (67; Fs) (notabene)

139 Wenn man Gott das Gute nennt, so meint man ihn immer als Schöpfer, der sein eigenes Sein und also auch seine Güte mitteilt; diese mitgeteilte Güte wohnt den Dingen inne wie ihr Sein; sie fällt mit diesem Sein zusammen und bezeichnet es nur nach einem besondern Gesichtspunkt. (67; Fs)

140 So kann das erste Gute [bonitas prima] als das Vorbild und die Wirkursache alles Guten bezeichnet werden, und man kann in diesem Sinne sagen: Alle Dinge sind gut durch die Güte Gottes. Wenn man aber sagt, sie seien gut von der Güte Gottes her, als ob ihr eigenes Sein nicht genüge, um sie als gut zu kennzeichnen, so hieße das, eine Abstraktion für eine reale Wesenheit nehmen, es hieße, eins der wesentlichen Attribute alles Seins verkennen, da das Sein gut ist auf Grund dessen, daß es ist9. (67; Fs) (notabene)

141 Maß man noch eigens betonen, daß das Gute den Begriff des Zweckes einschließt? Weil es das ist, 'was alle Dinge begehren', ist es für den, der es besitzt, ein Gegenstand des Wohlgefallens, für den, der es erwartet, ein Gegenstand der Sehnsucht. Es ist für ihn ein Ziel oder ein Zweck. Wenn man also einem Gut eine Ursächlichkeit zuschreibt, so wie man es gemeinhin tut, so kann dies nur die Ursächlichkeit sein, die dem Zweck eignet: das Gute ist seinem Wesen nach Zweckursache10. (67; Fs)

142 Man muß sich also vor der Zweideutigkeit hüten, die aus dem berühmten Satz entstehn könnte: Es liegt in der Natur des Guten, sich mitzuteilen [bonum est diffusivum sui]. Der Einfluß, von dem man dann spricht, darf nicht als irgendein 'Bewirken' verstanden werden, so als ob das Gute handelte, gerade insofern es gut ist. Das gute Sein handelt, und seine Güte liegt ohne Zweifel seiner Tätigkeit zugrunde, weil es tätig ist, insofern es Sein ist, und weil es, insofern es Sein ist, gut ist; (67f; Fs) (notabene)

143 nichtsdestoweniger ist sein Gutsein etwas anderes als sein Tätigsein. Insoweit es tätig ist, ist es Prinzip; insoweit es gut ist, ist es Vollkommenheit und Maß. Insoweit es tätig ist, teilt es seine Form mit; insofern es gut ist, kann es als Zweck dienen und in diesem Sinn Ursache - nicht allein seiner Form nach, sondern - dem ganzen Sein nach werden. Das Sich-Mitteilen des Guten geht also über den Bereich seines Bewirkens hinaus; es gehört einer andern Ordnung an11. (68; Fs)

144 Diese Art Tätigkeit ist übrigens die erste von allen, weil der Zweck die Ursache der Ursachen ist. Deshalb hatte Aristoteles an die Spitze der Schöpfung das Gute gesetzt, das höchste Begehrenswerte, das nach Art einer Zweckursache bewegt, ohne selbst bewegt zu sein. (68; Fs)

145 Der Verfasser des Buches über die Göttlichen Namen12 nennt die erste Ursache das Gute, noch ehe er sie das Sein nennt. Eine Tätigkeit setzt ja zuallererst einen Zweck voraus. Durch ihn, und zwar nur durch ihn wird die Tätigkeit des Tätigen in Gang gesetzt, und auf Grund dieses Zweckes bearbeitet das Tätige den Stoff und prägt ihm die Form ein. So ist also das Gute in der Ordnung der Ursächlichkeit das erste13. Als Wirkung dagegen ist es das letzte, da die Ordnung des Entstehens immer umgekehrt ist. (68; Fs)

146 Das Gute setzt, insoweit (eg (notabene)) es verwirklicht wird, die Wesenheit voraus, die das Sein, in dem das Gute gründet, bestimmt, und es setzt ebenfalls die Wirkkraft voraus, die aus dem Sein folgt und aus der Wesenheit fließt als das Zeichen und der natürliche Ausfluß der Vollkommenheit, die sie besitzt14. (68; Fs)

147 Um die Idee des Guten noch genauer darzulegen, zieht der heilige Thomas gern die augustinische Tradition heran, nach der das Gute in drei Dingen bestehn soll, die man als modus, species und ordo bezeichnet hat; sie entsprechen den biblischeu Worten: 'Alles hast du nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet' [omnia in numero, pondere et mensura disposuisti]. (68; Fs)

148 Ihr Sinn ist dieser: Ein Ding wird nach dem Gesagten gut genannt in dem Maße, als es vollkommen ist. Nun nennt man aber vollkommen das, dem nichts von dem fehlt, was es jeweils nach dem Grad seiner besondern Vollkommenheit haben muß. Da aber jedes Ding das, was es ist, durch seine Form ist, die seine Wesenheit bestimmt, und da diese Form gewisse Voraussetzungen hat und gewisse notwendige Folgerungen mit sich bringt, so muß ein Ding, wenn es vollkommen und gut genannt werden soll, sowohl die ihm zukommende Form, als auch die wesensnotwendigen Voraussetzungen und die natürlichen Folgen in sich vereinigen. (69; Fs)

149 Das Gute hat also eine dreifache Rolle: es mißt die Voraussetzungen, die Prinzipien des Dinges [modus], es bestimmt die Arten [species] und kennzeichnet die dem Dinge eigenen Strebungen [ordo]; allein es verliert dadurch in keiner Weise die Einheit seines Begriffs und seine ursprüngliche Identität mit dem Sein15. (69; Fs)

150 Ohne diese letztere Wahrheit aus dem Auge zu verlieren und ohne den Gedanken aufzugeben, daß das Gute, als tatsächlich mit dem Sein zusammenfallend, auch real mit diesem geteilt werden muß, kann man doch hier eine Einteilung einführen, die das Gute in sich [secundum propriam rationem] erfaßt, ohne seine Transzendenz anzugreifen. (69; Fs)

151 So haben Aristoteles und nach ihm die Väter der Kirche das Gute in das 'Ehrenhafte', 'Nützliche' und 'Angenehme' eingeteilt. Diese Einteilung hat in Wahrheit einen doppelten Sinn: einen ausschließlich menschlichen und einen allgemeinen oder metaphysischen. Der erste steht hier nicht in Frage, mit dein zweiten aber verhält es sich so16. (69; Fs)

152 Ein Sein ist gut, insofern es begehrt wird; anders ausgedrückt: insofern es für die Bewegung des Begehrens ein Ziel darstellt. Unter einem Ziel der Bewegung kann man aber ein Doppeltes verstehn: ein absolutes Ziel, in dem die Bewegung aufhört, und ein relatives [oder Zwischen-Ziel], durch das die Bewegung hindurch muß, um das letzte Ziel zu erreichen. Dieses letzte Ziel kann man übrigens noch einmal in doppelter Weise fassen: erstens als das Ding selbst, das erworben wird [eine Art, eine Form, eine neue Eigenschaft], und zweitens als das Ruhn des Sich-Bewegenden in dem, was es erworben hat. (69f; Fs)

153 Wenn es sich nun um das Begehren handelt, so ist das, was seine Bewegung nicht endgültig beendigt, sondern nur Mittel und Zwischenstation ist, das Nützliche [utile]; das letzte Ziel, zu dem es durch diese Zwischenstation hinstrebt, und das es als gut in sich ansieht, ist das Ehrenhafte [honestum]; das aber, was die Bewegung des Begehrens als Ruhe in dem Begehrten beendigt, ist das Angenehme [delectabile]. Dieser letzte Satz enthält eine Lehre von der Lust, auf die wir noch zurückkommen17. (70; Fs)

154 Es sei bemerkt, daß diese Einteilung, wenngleich sie nicht 'Dinge' setzt, da sie transzendental ist, doch dazu dienen kann, diese in ihrem gegenseitigen Verhältnis zueinander zu bestimmen und einander gegenüberzustehen, indem sie Hauptmerkmale unterstreicht, beziehungsweise Gesichtspunkte festlegt, die als solche ausschließend wirken. (70; Fs)

155 So nennt man im besondern angenehm, was im Gegensatz zum Ehrenhaften und Nützlichen nur um der Lust willen erstrebt wird, während man nützlich nennt, was - ob angenehm oder nicht - Mittel ist, ein anderes Gut zu erwerben, ehrenhaft aber nennt man jenes Gut, das man - unter welchem Gesichtspunkt auch immer - als begehrenswert um seiner selbst willen ansieht18. (70; Fs)

156 Bemerken wir indessen noch einmal, daß diese drei Arten, in denen sich somit das Gute entfaltet, es keineswegs gleichberechtigt teilen, sondern nach einer Ordnung, deren genaue Kennzeichnung die Grundlage der Moral bildet. In erster Linie steht natürlich das Ehrenhafte, weil es seinen Wert in sich selbst trägt und die Idee des Guten selbst verkörpert; dann kommt das Angenehme, das ebenfalls den Charakter des Zieles hat, wenn es auch nur in zweiter Linie - um der Lust willen - gewollt ist, die in ihm gefunden wird; an letzter Stelle endlich steht das Nützliche, weil es den Charakter des Zieles und darum des Guten nicht in sich selbst, sondern nur mit Rücksicht auf ein Anderes in sich trägt19. (70; Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt