Autor: Sertillanges A. D. (Gilbert) Buch: Der heilige Thomas von Aquin Titel: Der heilige Summa von Aquin Stichwort: Transzendentalien: Einheit 2; Zeit: zeitliche Vielheit - aevum - Ewigkeit; transzendentale - numerische E.: Maß, Zahl, Vielheit Kurzinhalt: Die materiellen Wesen, die in ihrer Substanz selbst veränderlich sind, besitzen ihren Anteil am Sein nicht auf einmal: man könnte sagen, sie sind ständig auf der Suche danach, und in dem Maße, in dem sie ihn erreichen, verlieren sie ihn: ...
Textausschnitt: 61 Übrigens sind alle Dinge nicht allein in Hinsicht auf ihren Bestand dem Gesetz des Einen und des Vielen im Verhältnis zu ihrem Sein unterworfen, sondern in gleicher Weise auch in bezug auf ihre zeitliche Entwicklung. (48f; Fs)
62 Die materiellen Wesen, die in ihrer Substanz selbst veränderlich sind, besitzen ihren Anteil am Sein nicht auf einmal: man könnte sagen, sie sind ständig auf der Suche danach, und in dem Maße, in dem sie ihn erreichen, verlieren sie ihn: ihr Leben ist ein fortwährender Tod. Ihre Dauer ist also eine wirkliche Vielheit und überdies eine unbegrenzbare Vielheit, wie die Bewegung und die Materie, die unendlich teilbar sind. Hier haben wir also noch einmal die Vielheit im vollendeten Zustand und das Mindestmaß von annehmbarer Einheit1. (49; Fs)
63 Die immateriellen Wesen - zum wenigsten als solche - haben, da sie ihrem Wesen nach sich nicht entwickeln, aus sich keine 'Dauer', es sei denn, daß man das Wort in einem weiteren [seine ursprüngliche Bedeutung verneinenden] Sinn nähme, in welchem Fall man dieses Maß der Dauer aevum nennt, um seine bleibende Unbewegtheit auszudrücken. Es liegt also hier eine grundlegende Einheit vor, und nur deshalb, weil diese Wesen zwar auf einmal 'ihr' Sein besitzen, aber trotzdem nicht das ganze Sein, unterliegen die aeviterna der Entwicklung und darum - in dieser Beziehung - einer Vielheit der Dauer. Diese Vielheit, die sich nur auf ihre Vermögen bezieht, die durch ihre innere Armut nach außen gewiesen werden auf das Sein hin, das sie sich angleichen können, steht in der Mitte zwischen zeitlicher Vielheit und göttlicher Unbewegtheit. (49; Fs)
64 Das 'Erste Sein' endlich, das nichts zu erwerben braucht, da es die Fülle nicht nur 'seines' Seins, sondern 'des' Seins überhaupt besitzt, ist der Entwicklung in keiner Weise unterworfen, und wenn man auf es den Begriff der Dauer anwenden will, so kann dies nur durch eine Analogie geschehn, die aus der Welt der Geschöpfe genommen ist, das heißt, man muß sagen, daß diese 'Dauer' unteilbar und also vollkommen 'eins', das heißt, daß sie die Ewigkeit ist2. (49; Fs) (notabene)
65 Die transzendentale Einheit ist also etwas ganz anderes als die numerische Einheit; beide sind jedoch nicht ohne Beziehung zueinander. Was die erstere kennzeichnet, ist allein ihre Ungeteiltheit; sie ist daher auf alle Gattungen anwendbar. Die zweite dagegen ist bestimmt durch das Merkmal des Maßes, und zwar des gleichartigen Maßes, denn ein wirkliches Maß muß ja dem Gemessenen gleichartig sein; sie ist daher bloß auf die Ausdehnung anwendbar; denn gleichartige Vielheit findet sich nur dort, wo sich die Materie findet, deren allererste Eigentümlichkeit die Ausdehnung ist3. (49f; Fs)
66 Allein ebenso wie die Einheit, die aus sich selbst Maß der Zahl ist, sich in zweiter Linie auf die Raum-, Zeit- und Bewegungsmaße anwenden läßt, insofern in ihnen ein Zusammenhängendes enthalten ist, das eben der Möglichkeit nach eine Zahl ist, ebenso läßt sich - wenn auch bloß in analoger Weise [per quandam similitudinem] - der transzendentalen Einheit die Rolle des Maßes zuschreiben, und zwar nicht allein für die Gattung Quantität, sondern für alle Gattungen4. (50: Fs)
67 Denn es ist ja klar, daß man - wenn die Zahl den Begriff des Maßes einschließt - diesen Begriff auf alles anwenden kann, was meßbar ist, insoweit es meßbar ist; meßbar aber sind alle Dinge, je nachdem sie mehr oder weniger ein Ausgedehntes und infolgedessen auch teilbar sind. Nun entsteht die transzendentale Vielheit aus der Entgegengesetztheit der Formen, in die das Sein zerfällt, und wenngleich dies keine Teilung im eigentlichen Sinne ist, da das Sein nicht gleichartig und ferner auch keine Gattung ist, so kann man doch in einem gewissen Sinne von einer Teilung sprechen und darum analogerweise sagen, daß die Formen, in die das Sein zerfällt, eine Zahl bilden. (50: Fs)
68 Es ist hierbei nur genau zu beachten, daß die Zahl hier eine reine Abstraktion ist, weil das Geteilte selbst etwas Abstraktes ist, und nur unser Geist die Einheit des Seins wahrnimmt, und weil es schließlich in Wirklichkeit ein gemeinsames Maß nicht geben kann für Dinge, die nicht durch die Gemeinsamkeit der Materie miteinander verbunden sind. (50: Fs)
69 Die prädikamentale Zahl dagegen ist eine Naturwirklichkeit5. Der Thomismus bezeichnet den Unterschied zwischen diesen beiden Fällen dadurch, daß er das Wort 'Zahl' für die materielle Mehrheit und das Wort 'Vielheit' für die transzendentale Mehrheit gebraucht. Auf die erste richtet sich die ganze Arbeit der mathematischen Wissenschaften. Mittelbar kommt das auch der zweiten zugute, wieder mit Hilfe der Analogie, insofern die aus der Entgegengesetztheit der Formen entstehende Teilung demselben Gesetz folgt wie die quantitative Teilung, und die Vielheiten darum in einem gewissen Verhältnis zueinander stehn6. (50: Fs)
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