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Autor: Sertillanges A. D. (Gilbert)

Buch: Der heilige Thomas von Aquin

Titel: Der heilige Summa von Aquin

Stichwort: Transzendentalien: Einheit 1; ungeteilt in sich selbst, geschieden von allem andern; transzendentale numerische E.; Sein, Teilung: Quantität - 'formale Gegensätze'; ens et unum convertuntur

Kurzinhalt: Aber diese Philosophen ... wußten nicht zu unterscheiden zwischen der 'transzendentalen' Einheit, die sie meinten, wenn sie die Einheit als identisch mit dem Sein erklärten, und der 'numerischen' Einheit ... Das Sein wird aufgefaßt als eine in sich ...

Textausschnitt: 37 Die Einheit hat im Altertum zu berühmten Streitigkeiten Anlaß gegeben. Pythagoras und Plato hatten richtig gesehn, daß die Einheit zum Sein nichts Wirkliches hinzufügt, sondern es bezeichnet - insoweit jedes bestehende oder gedachte Ding, wenn anders es mit Recht den Namen eines Seienden trägt, notwendigerweise als 'ungeteilt in sich selbst und als geschieden von allem andern' angesehn werden muß. (44, Fs)

38 Was wäre ein Sein ohne Einheit? Jedes Wesen ist entweder einfach oder zusammengesetzt. Das Einfache ist eine Einheit sowohl der Wirklichkeit als der Möglichkeit nach, da es ungeteilt und unteilbar ist. Das Zusammengesetzte dagegen ist teilbar; wenn man es jedoch als geteilt setzt, so ist es nicht mehr es selbst: ein geteiltes Viereck sind zwei Dreiecke; ein in zwei Stücke zerbrochener Stein ist als solcher nicht mehr vorhanden, vorhanden sind nur noch zwei Bruchstücke. Das Sein eines jeden Dinges setzt also seine Ungeteiltheit voraus; daher kommt es, daß jedes bestehende Sein wie der Zerstörung seines Seins, so auch der seiner Einheit widerstrebt1. (44f, Fs)

39 Aber diese Philosophen wußten nichts von den Kategorien, oder sie erkannten ihren Wert nicht. Sie wußten nicht zu unterscheiden zwischen der 'transzendentalen' Einheit, die sie meinten, wenn sie die Einheit als identisch mit dem Sein erklärten, und der 'numerischen' Einheit, die im übrigen ihr ganzes Denken beherrschte. Daher kommt die Zweideutigkeit, die die ganze Philosophie dieser großen Denker verdirbt. (45, Fs)

40 Anstatt aus der Quantität eine besondere Gattung zu machen, von der die Zahl eine Art ist - und die Einheit das Prinzip dieser Art -, machten sie aus ihr eine transzendentale Bestimmung. Die Zahl, die aus der mit dem Sein identischen Einheit erst folgt, wurde so die Substanz der Dinge selbst2. (45; Fs)

41 Die Einteilung des Seins in Kategorien, deren Prinzip wir später auseinandersetzen werden, hilft über diesen Irrtum hinweg. Die Quantität ist nur eine Seinsweise unter vielen andern, sie ist nicht eine allgemeine Eigentümlichkeit des Seins. Darum ist auch die Substanz an sich nicht Quantität, und sie hat mit der Zahl nichts zu tun. Wenn die Zahl ihr anhaftet, so ist sie ihr gegenüber nur ein Akzidenz. Genau so ist es mit der Einheit als Prinzip der Zahl3. (45; Fs)

Kommentar (01.10.09): Cf F1_011a1ad1

42 Die transzendentale Einheit ist etwas ganz anderes. Sie ist zunächst einmal das, was das Gute im allgemeinen wäre, im Gegensatz zum moralisch Guten, das die Regel der menschlichen Handlungen ist. 'Transzendental' bezeichnet das, was über allen Gattungen steht und ihnen allen eigen ist; die so verstandene Einheit gilt also in allen Bereichen: sie bestimmt das, was ist, insofern es notwendigerweise ungeteilt ist: nicht quantitativ ungeteilt - das hieße ja die Einheit zu einer Gattung machen -, sondern frei von jeder auf das Sein in seiner Fülle anwendbaren Teilung. (45; Fs)

43 Denn das Sein teilt sich nicht wie die Quantität. Nicht durch Zerstückelung wird es ein Vielfaches, sondern durch 'formale Gegensätze', das heißt durch die Unterscheidung der 'Wesenheiten', mögen diese wirklich einander entgegengesetzt oder nur einfach voneinander verschieden sein, mögen sie positive Setzungen oder bloß Beziehungen sein4. (45f; Fs) (notabene)

44 Hier erscheint einer der fundamentalen Gesichtspunkte des ganzen Systems. Den eben bezeichneten gegensätzlichen Auffassungen zum Trotz geht von Pythagoras und Plato über Aristoteles die Auffassung des Seins aus, auf der alle großen thomistischen Thesen beruhen. (46; Fs)

45 Das Sein wird aufgefaßt als eine in sich unbegrenzte Natur, die sich in Wesenheiten entfaltet5. Jedes Ding hat seine Wesenheit, die seinen Anteil am Sein bestimmt6. Die Gesamtheit der Wesenheiten, der wirklichen und der möglichen, wäre gewissermaßen die volle Ganzheit des gesamten Seins; sie würde seinen Begriff erschöpfen; allein das ist nur ein 'Grenzfall', den keine Macht, auch die göttliche nicht, erreichen könnte. (46; Fs) (notabene)

46 Ebenso wie es nach jeder Zahl immer noch eine Zahl gibt, und wie keine Größe die Idee der Größe erschöpft, so ist die Entfaltung des Seins in Wesenheiten von Natur aus ohne Grenzen. Das Sein ist unerschöpflich; seine 'Verwirklichungsmöglichkeiten' stellen ein Unendliches dar. (46; Fs)

47 Die Einheit besteht also für jede dieser Arten des Seins darin, daß sie sie selbst ist: daß sie in sich selbst geschlossen und [wie gesagt] von allem andern abgeschlossen ist. Daher ist die schicksalhafte Formel: Das Sein und das Eine fallen zusammen [ens et unum convertuntur], unmittelbar einsichtig. (46; Fs)

48 Es ist ebenso klar, daß es überall da Einheit gibt, wo es Sein gibt; und zwar so, daß die Vielheit selbst, wenn sie als solche ihr Sein hat, auch ihre Einheit hat, ohne daß hier irgendein Widerspruch vorläge. Denn nichts ist absolut Vielheit: sonst könnte man nicht mehr von ihr sprechen, denn von ihr sprechen heißt ja, sie als Einheit begreifen; das 'Eine' allein ist erkennbar. Jedoch kann, was in dieser Beziehung eine Einheit darstellt, in einer andern Beziehung eine Vielheit bilden. (46; Fs)

49 Es kann zum Beispiel etwas, was seiner Wesenheit nach eins ist, seinen Bestimmungen nach geteilt sein; was als Träger eins ist, kann vielfach sein in den Eigenschaften; was als Akt eins ist, kann vielfach sein in den Potenzen; was als Ganzes eins ist, kann vielfach sein in seinen Teilen. In all diesen Fällen wird man sagen, daß das betreffende Ding eins 'schlechthin' [simpliciter] ist, daß es vielfach ist 'in einer gewissen Hinsicht' [secundum quid]. (46f; Fs)
50 Umgekehrt: Was in sich vielfach ist, kann in unserm Denken eins sein; was vielfach in seiner Verwirklichung ist, kann einfach sein in seiner Ursache; was vielfach ist in der Zahl, kann einfach sein in der Art, und in diesem Fall wird man sagen, daß absolut gesprochen [simpliciter] eine Vielheit vorliegt, in einer gewissen Hinsicht dagegen eine Einheit. (47; Fs)

51 Allein in all diesen Fällen wird man sagen müssen, daß das betreffende Ding nur unter dem bestimmten Gesichtspunkt ein Sein ist, in Wirklichkeit aber ein Nichtsein; denn im Denken existieren, heißt nicht, wirklich existieren; in seinen Ursachen sich 'eins' wissen, heißt auch noch nicht existieren; und auch die Art als Einheit hat keine Existenz außerhalb der Einzelwesen. In all diesen Fällen hängen diese beiden Begriffe zusammen. Das Sein zerfällt in das Eine und das Viele nur dann, wenn man von absoluter Einheit und relativer Vielheit spricht. (47; Fs)

52 Wenn es sich um eine absolute Vielheit handelte, so wäre von einem Sein keine Rede mehr, und man könnte es daher nicht mehr teilen, oder anders gesagt: man käme zu einem relativen Sein, das in Wirklichkeit ein Nichtsein wäre. So ergibt sich also auch durch den Gegenbeweis, daß das Sein und das Eine völlig identisch sind7. (47; Fs)

53 Hieraus folgt dann, daß alles, was von einem andern in seinem Sein abhängt, auch in seiner Einheit von ihm abhängt. Darum wird das Akzidenz, das gewissermaßen auf die Substanz 'aufgepfropft' ist und ihr sein Sein entleiht, einfach oder vielfach sein, je nachdem sein Träger einfach oder vielfach ist8. (47; Fs)

54 Ebenso wird, da die Wirkung von ihrer Ursache in ihrem Sein abhängt, auch ihre Einheit in gleichem Maße von ihr abhängen. Daraus läßt sich schließen, daß der Zufall, der keine eigentlich bestimmte Ursache hat, keinerlei Einheit besitzt und darum - streng gesprochen - auch ein Sein nicht sein kann9. Weiter läßt sich schließen, daß die Welt, die die Wirkung einer einzigen geistig handelnden Ursache ist, auch selbst eine Einheit - im Sinne einer Einheit der Ordnung - sein muß. (47; Fs)

55 Da ferner die menschliche Seele nur in ihrer Tätigkeit, aber nicht in ihrem Sein vom Stoff abhängt, so kann sie ihre Einheit auch dann bewahren, wenn die Einheit des Körpers zerstört ist; daher nennen wir sie unzerstörbar oder unauflöslich.10 (47f; Fs) (notabene)

56 Ebenso müssen wir, da jedes Wesen durch seine Form besteht und von ihr seine Einheit hat, schließen, daß das Mischwesen [mixtum], das seine Einheit in wirklich artlich besonderen Eigentümlichkeiten offenbart, eine eigene Form besitzt, unter der die einzelnen Teilformen nur der Kraft nach [virtuell], aber nicht mehr tatsächlich [aktuell] vorhanden sind11. (48; Fs)

57 Man wird noch weiter schließen, daß gewisse Tiere, die eine der Möglichkeit nach vielfache Form haben, wegen der Einfachheit der Anlagen, die jene Form erfordert, selbst der Möglichkeit nach eine Vielheit sind: daher die Möglichkeit der Fortpflanzung durch Teilung. Solche Fälle finden sich in Menge. (48; Fs)

58 Weiter ergibt sich aus diesem Satz, daß der Grad der Teilnahme am Sein den Grad der Teilnahme an der Einheit bestimmt, dergestalt, daß die niedrigste uns bekannte Stufe, der reine Stoff oder die 'erste Materie', aus sich selbst gar keine Einheit hat, sondern im Gegenteil der Sitz der reinen Vielheit ist, die Quelle der gleichartigen Teilung, und zwar der allergröbsten, da sie ohne Gewinn für das Sein ist, vielmehr dem Nichtsein sich nähert durch die Zerstückelung ihres Trägers, während die Teilung durch einander entgegengesetzte Formen den Reichtum des Seins entfaltet und vervielfältigt. (48; Fs) (notabene)

59 Die transzendentale Vielheit liegt in der Mitte zwischen der untersten Art der Vielheit und der reinen Einheit. Sie ist insofern unvollkommen, als keines ihrer einzelnen Glieder das Sein schlechthin ist, sondern nur eine Weise des Seins verwirklicht und also Raum läßt für andere, sie ergänzende Offenbarungen des Seins, die für jene erste Art gewissermaßen 'Grenzen' sind. (48; Fs)

60 Die reine Einheit wird verwirklicht durch das 'Erste Sein', das in vollem Maße Sein ist und darum keine Wesenheit besitzt, die es begrenzt, das alles in sich enthält, was die andern Wesen in einer vielfältigen Art verwirklichen, und das darum vollkommen 'eins' oder, besser gesagt, 'Das Eine' ist. (48; Fs)

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