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Autor: Thomas, Aquin von

Buch: Gott und Schöpfung

Titel: Gott und Schöpfung

Stichwort: Seinswissenschaft, Ontologie; Prinzipien, Axiome (prima principia, axiomata, dignitates); Omne ens est verum; Ens et verum convertuntur

Kurzinhalt: Das Seiende selbst zwingt uns zu dem Urteil: man kann etwas in der nämlichen Hinsicht nicht zugleich bejahen und verneinen. Dieses Urteil beruht auf den Begriffen von Seiend und Nichtseiend, ...

Textausschnitt: 2. Ursätzliches im Denken und Sein

LVIIa Unsere Ersterfassung - Seiend - ist in jeglichem, was wir auffassen, einbeschlossen. Im Grunde ist dieser ursprünglichste und allgemeinste Begriff schon das Urteil: Seiend ist, und es kann nicht zugleich nichtsein. Das ist das primum principium, der Ursatz, das ontologische Grundgesetz: ein Denk- und Seinsgesetz zugleich. Es ist im Sein selbst begründet, und es ist unbeweisbar. Das Seiende selbst zwingt uns zu dem Urteil: man kann etwas in der nämlichen Hinsicht nicht zugleich bejahen und verneinen. Dieses Urteil beruht auf den Begriffen von Seiend und Nichtseiend, auf ihm selbst beruhen alle andern Ursätze sonst, und sie lassen sich nicht weiter zurückführen als auf diesen unzurückführbar ersten: den Satz vom Widerspruch (principium contradictionis). Wie also die einfache Auffassung von Seiendem den Begriff Seiend mit sich bringt, so liegen auch in dem notwendig daraus erfolgenden Urteil, daß Seiend nicht zugleich auch Nichtseiend sein kann, weitere Gewißheiten einbeschlossen, welche gleich jener ersten durch sich selbst einsichtlich (evident) sind. Obgleich sie von ihr abhängig sind, so daß sie mit ihr stehen und fallen, sind sie doch "etwas durch sich selbst Offenbares, von dem sich nicht denken läßt, daß es nicht sei", und heißen gleichfalls prima principia (auch axiomata, dignitates). Solche Ursätze sind:

LVb Es gibt keine Wirkung ohne Ursache. (Ungewirktes Gewirktes ist nicht denkbar.)
LVIIIa
Das Ganze ist größer als sein Teil. (Sonst wäre es das Ganze und nicht das Ganze.)
Das Tätigsein folgt dem Wirklichsein. (Wo Feuer brennt, kann nicht Erwärmung nicht sein.)
Nichts kann die Ursache seiner selbst sein. (Es wäre sonst Ursache und Wirkung, also Nicht-Ursache, in Einem.)
Niemand gibt, was er nicht hat.
Dasjenige, weswegen etwas ein solches ist, ist es selbst noch mehr. (Propter quod unumquodque tale, ipsum magis. Gesundheit ist begehrenswert wegen des Lebens, also ist Leben es noch mehr. Oder: Abgeleitetes kann nicht größer sein als das Stammhafte.)
Unendliches kann vom Endlichen nicht erfaßt werden.
Aus der Möglichkeit kann etwas in die Wirklichkeit nur durch ein in Wirklichkeit Seiendes übergeführt werden.
Eins und ein anderes, die einem Dritten gleich sind, sind unter sich gleich.
Das Nichts hat keine Eigenschaften.

LVIIIb Diese trotz ihrer gemeinsamen Rückführbarkeit eigengültigen und nicht erst abgeleiteten Sätze gestatten Erklärung und Erläuterung, aber sie zu beweisen ist weder notwendig noch möglich, und zwar, wie Thomas sagt, nicht wegen Mangels, sondern Fülle des Lichts. Es verhält sich mit ihnen im Bereiche des zur Erkenntnis stehenden Seins ebenso wie mit dem sittlich Ursätzlichen im Bereiche des Handelns, wo der im Erstbegriffe Gut beschlossene Inhalt sich sogleich in dem Urteil entfaltet: Gut muß erstrebt und getan, Böse muß vermieden werden. (Fs) (notabene)

Das angegebene Erste Grundgesetz ist nach der Seite Seiend wie nach der Seite Denken zu betrachten. Im ersten Falle, ontologisch, lautet es: Seiend ist nicht zugleich nichtseiend; im zweiten, logisch, lautet es: man kann nicht vom nämlichen in der nämlichen Hinsicht zugleich bejahen und verneinen. (Und gleichso bald ontologischen, bald logischen Charakters sind die Sätze der aufgeführten Reihe.) Diese unterscheidbaren und nicht gefahrlos zu vermischenden Ordnungen sind aber nicht schlechthin getrennte Welten, sondern Ordnungen der Einen Wirklichkeit. Indem wir notgedrungen vom Seienden dieses oder jenes Allgemeingültige aussagen, bewegen wir uns in Gedanken und Urteilen, die uns von der erfahrenen Wirklichkeit auferlegt werden. So ist der Satz vom Widerspruch zweifellos unser Satz, subjektiv, nicht erst aus den Dingen gewonnen, aber nicht so subjektiv, daß er nicht von den Dingen bewahrheitet würde und zugleich als ihr Gesetz gelten könnte. Dasselbe zugleich vom nämlichen bejahen und verneinen ist uns deshalb unmöglich, weil in der Welt des Seienden etwas nicht zugleich sein und nicht sein kann. (Fs) (notabene)

LIXa Es zieht sich also etwas Ursätzliches durch Denken und Sein gemeinsam hindurch. Mehr noch: Denken und Sein, Erkennend-Seiendes und Erkannt-Seiendes, stehen überhaupt, nicht nur in Mensch und ihm gegebener Welt, in gegenseitiger Durchdringung (sie ist treffend auch mit compenetratio bezeichnet worden). Aus der Begegnung mit Seiend entstehen dem Verstande ursprüngliche Gewißheiten, weswegen er auch "Verhabung der Ursätze" (habitus principiorum) genannt wird. Das Denken ist auf Sein hin, das Sein auf Denklichkeit bestimmt. Das Seiende ist denklich (und wirklich auch gedacht) als ein solches, nämlich als seiend. Insofern ist jegliches Seiend gleich Wahr: Omne ens est verum. Oder: Jedes Seiend ist ein Wahr, das seiend ist. (Fs)

Aber diese Aussage von den Begriffen Seiend und Wahr gilt auch in ihrer Umkehrung: Jegliches Wahr ist seiend: Omne verum est ens. Oder: Jedes Wahr ist ein Seiend, das wahr ist. (Fs)

LIXb Also gilt auch der Satz: Seiend und Wahr sind in der Aussage des einen vom andern umkehrbar: Ens et verum convertuntur1. Vorgreifend setzen wir auch schon die Begründung her, die Thomas gibt: Seiend und Wahr sind umkehrbar, weil jedes Naturding durch seine Form gleichförmig wird mit der Gestaltnis in Gott (arti divinae conformatur). "Die Seinsbestimmtheit des Denkens ist letzterdings Denkbestimmtheit des Seins. Das Seiende ist in dem Maße Seiendes, in welchem es Geist und Gedanke ist. 'Ursprung ist das Denken' - archE gar HE noEsis (Aristoteles)2". (Fs) (notabene)

LIXc Fassen wir bündig zusammen! Die Urerfahrung Seiend trägt die Bestimmung Wahr mit sich. Jedes Wahr ist Wahr-sein eines Seienden, und jedes Seiende ist Seiendsein eines Wahr. Seiend und Wahr fallen (nicht begrifflich, aber) sachlich zusammen. Dieser ontologische Befund in seiner Schlichtheit und Ursprünglichkeit ist Grundlage und Voraussetzung dafür, daß wir von Wahrheit als Beziehung zwischen Ding und Denken, also von Erkenntniswahrheit sprechen können. Der Träger jenes Befundes ist der Verstand im allgemeinsten Sinne, also ein Denkend-Seiendes, entweder ein schlechthin unbedingter, allerfassender, der göttliche, oder der bedingte und beschränkte des Menschen oder irgendwelcher Verstandwesen, die weder Gott noch Mensch sind. (Fs)


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