Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef Buch: Enzyklika Veritatis splendor Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor Stichwort: Enzyklika Veritatis Splendor - Gegenstand; Krise
Kurzinhalt: Es handelt sich nicht mehr um begrenzte und gelegentliche Einwände, sondern um eine globale und systematische Infragestellung der sittlichen Lehrüberlieferung aufgrund bestimmter anthropologischer und ethischer Auffassungen.
Textausschnitt: 4. Seit jeher, aber vor allem im Lauf der beiden letzten Jahrhunderte haben die Päpste sowohl persönlich wie gemeinsam mit dem Bischofskollegium eine Sittenlehre entwickelt und vorgelegt, die die vielfältigen und verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens berücksichtigt. Im Namen und mit der Autorität Jesu Christi haben sie ermahnt, verkündet, erklärt; in Treue zu ihrer Sendung, im Ringen für den Menschen haben sie bestärkt, aufgerichtet und getröstet; mit der Garantie des Beistands des Geistes der Wahrheit haben sie zu einem besseren Verständnis der sittlichen Ansprüche im Bereich der menschlichen Sexualität, der Familie, des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens beigetragen. Ihre Lehre stellt sowohl innerhalb der Überlieferung der Kirche wie der Menschheitsgeschichte eine ständige Vertiefung der sittlichen Erkenntnis dar.1 (Fs)
Doch heute erscheint es notwendig, über die Morallehre der Kirche insgesamt nachzudenken, mit der klaren Zielsetzung, einige fundamentale Wahrheiten der katholischen Lehre in Erinnerung zu rufen, die im heutigen Kontext Gefahr laufen, verfälscht oder verneint zu werden. Es ist nämlich eine neue Situation gerade innerhalb der christlichen Gemeinschaft entstanden, die hinsichtlich der sittlichen Lehren der Kirche die Verbreitung vielfältiger Zweifel und Einwände menschlicher und psychologischer, sozialer und kultureller, religiöser und auch im eigentlichen Sinne theologischer Art erfahren hat. Es handelt sich nicht mehr um begrenzte und gelegentliche Einwände, sondern um eine globale und systematische Infragestellung der sittlichen Lehrüberlieferung aufgrund bestimmter anthropologischer und ethischer Auffassungen. Diese haben ihre Wurzel in dem mehr oder weniger verborgenen Einfluß von Denkströmungen, die schließlich die menschliche Freiheit der Verwurzelung in dem ihr wesentlichen und für sie bestimmenden Bezug zur Wahrheit beraubt. So wird die herkömmliche Lehre über das Naturgesetz, über die Universalität und bleibende Gültigkeit seiner Gebote abgelehnt; Teile der kirchlichen Moralverkündigung werden für schlechthin unannehmbar gehalten; man ist der Meinung, das Lehramt dürfe sich in Moralfragen nur einmischen, um die "Gewissen zu ermahnen" und "Werte vorzulegen", nach denen dann ein jeder autonom die Entscheidungen und Entschlüsse seines Lebens inspirieren wird. (Fs)
Hervorgehoben werden muß im besonderen die Diskrepanz zwischen der herkömmlichen Antwort der Kirche und einigen, auch in den Priesterseminaren und an den theologischen Fakultäten verbreiteten theologischen Einstellungen zu Fragen, die für die Kirche und für das Glaubensleben der Christen, ja für das menschliche Zusammenleben überhaupt, von allergrößter Bedeutung sind. Hier wird insbesondere gefragt: Besitzen die Gebote Gottes, die dem Menschen ins Herz geschrieben sind und Bestandteil des Bundes Gottes mit ihm sind, tatsächlich die Fähigkeit, die täglichen Entscheidungen der einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft zu erleuchten? Ist es möglich, Gott zu gehorchen und damit Gott und den Nächsten zu lieben, ohne diese Gebote unter allen Umständen zu respektieren? Verbreitet ist auch der Zweifel am engen und untrennbaren Zusammenhang zwischen Glaube und Moral, so als würde sich die Zugehörigkeit zur Kirche und deren innere Einheit allein durch den Glauben entscheiden, während man in Sachen Moral einen Pluralismus von Anschauungen und Verhaltensweisen dulden könnte, je nach Urteil des individuellen subjektiven Gewissens bzw. der Verschiedenheit der sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen. (Fs)
5. In einem derartigen noch immer aktuellen Kontext ist in mir der Entschluß gereift, eine Enzyklika zu schreiben, die - wie ich in dem am 1. August 1987 aus Anlaß des 200. Todestages des hl. Alfonso Maria von Liguori veröffentlichten Apostolischen Schreiben Spiritus Domini angekündigt habe - "umfassender und gründlicher die Fragen, die die eigentlichen Grundlagen der Moraltheologie betreffen",1 behandeln soll, Grundlagen, die durch einige Richtungen der heutigen Moraltheologie angegriffen werden. (Fs)
Ich wende mich an euch, ehrwürdige Brüder im Bischofsamt, die ihr mit mir die Verantwortung teilt, die "gesunde Lehre" (2 Tim 4,3) zu bewahren, mit der Absicht, einige Aspekte der Lehre zu präzisieren, die entscheidend sind, um dem zu begegnen, was man wohl ohne Zweifel eine echte Krise nennen muß, so ernst sind die Schwierigkeiten, die daraus für das moralische Leben der Gläubigen und für die Gemeinschaft in der Kirche wie auch für ein gerechtes und solidarisches soziales Leben folgen. (Fs)
Wenn diese seit langem erwartete Enzyklika erst jetzt veröffentlicht wird, dann auch deshalb, weil es angebracht erschien, ihr den Katechismus der katholischen Kirche vorausgehen zu lassen, der eine vollständige und systematische Darlegung der christlichen Morallehre enthält. Der Katechismus stellt das sittliche Leben der Gläubigen in seinen Grundlagen und in seinen vielfältigen Inhalten als Leben der "Kinder Gottes" vor: "Im Glauben ihrer neuen Würde bewußt, sollen die Christen fortan so leben, ,wie es dem Evangelium Christi entspricht' (Phil 1,27). Sie werden dazu befähigt durch die Gnade Christi und die Gabe seines Geistes, die sie durch die Sakramente und das Gebet erhalten".2 Indem sie auf den Katechismus äls sicheren und maßgebenden Text für die Unterweisung in der katholischen Lehre"3 verweist, wird sich die Enzyklika darauf beschränken, sich mit einigen grundlegenden Fragen der Morallehre der Kirche auseinanderzusetzen, und dies in Form einer notwendigen Klärung von Problemen, die unter den Ethikern und Moraltheologen umstritten sind. Das ist das spezifische Thema der vorliegenden Enzyklika, der es darum geht, hinsichtlich der erläuterten Probleme die Erfordernisse einer auf die Heilige Schrift und die lebendige apostolische Überlieferung gegründeten Morallehre darzulegen4 und zugleich die Voraussetzungen und Folgen der Entgegnungen aufzuzeigen, die sich gegen diese Lehre richteten. (Fs)
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