Autor: Brandmüller, Walter Buch: Licht und Schatten Titel: Licht und Schatten Stichwort: Weltkirche - Nationalkirche (Deutschland 19 Jhdt.); "Liberaler" Katholizismus - Die "Ultramontanen" Kurzinhalt: Der politische wie geistig-kulturgeschichtliche Umbruch der Französischen Revolution hatte eine Epoche beendet, ... Nun sahen sich beide Bereiche - weltliche Gesellschaft und Kirche - vor der Aufgabe, ihr gegenseitiges Verhältnis neu zu definieren.
Textausschnitt: 166a Der politische wie geistig-kulturgeschichtliche Umbruch der Französischen Revolution hatte eine Epoche beendet, in der Kirche und Staat, Religion und Kultur beziehungsweise auch Politik eine spannungsreiche, aber doch allem Wandel standhaltende Einheit gebildet hatten. Nun sahen sich beide Bereiche - weltliche Gesellschaft und Kirche - vor der Aufgabe, ihr gegenseitiges Verhältnis neu zu definieren. (Fs) (notabene)
Katholischerseits entwickelten sich dabei im wesentlichen zwei -in sich wiederum differenzierte - Standpunkte, die jeweils in eigenen theologischen Schulen gründeten und unterschiedliche gesellschafts- bzw. kulturpolitische Stellungnahmen und Verhaltensweisen zur Folge hatten. Nicht zuletzt spielte dabei die Stellungnahme zu dem sich zunehmend in hegelianischem Sinne begreifenden und entsprechend handelnden Staat und damit der Nation eine entscheidende Rolle. Beide Strömungen unterschieden sich auch unter soziologischen und offenbar auch politischen Gesichtspunkten, wie zu zeigen sein wird. (Fs)
Diese gegenläufigen Entwicklungen, die sich schließlich in der Auseinandersetzung um das 1. Vatikanische Konzil mit aller Violenz entluden, können hier freilich mit Verzicht auf an sich notwendige Differenzierungen nur in holzschnittartiger Manier und schematisierend dargestellt werden. Im Grunde war es die Frage, wie der Katholik, wie die Kirche sich zu der im Zuge von Aufklärungsphilosophie und Revolutionen - 1789, 1820, 1830, 1848 -säkularisierten Gesellschaft zu stellen habe. (Fs)
Eine eher optimistische Sicht der sogenannten modernen Gesellschaft war vorherrschend in jenen Kreisen, die noch unter dem Einfluß der Aufklärung standen, sich aber auch den durch die Romantik belebten nationalen Empfindungen öffneten, die im Vormärz immer stärker zu Tage traten. 1840 entstanden etwa die Lieder "Die Wacht am Rhein" und "Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein". Allgemeines deutsches Sängerfest zu Lübeck, Germanistentage zu Lübeck und Frankfurt bekunden und fördern einen wachsenden deutsch-nationalen Enthusiasmus, der schließlich zum Paulskirchenparlament von 1848 führte, dessen soziologische Zusammensetzung charakteristisch war: Es war ein Akademiker-Bürgerparlament. Dieses, am Anfang noch "großdeutsch" angelegte Nationalbewußtsein, das Deutsch-Österreich mit umfaßte, wurde im Zuge der Entwicklung durch das "kleindeutsche" Konzept abgelöst, das, Österreich ausschließend, auf eine preußisch-protestantische Hegemonie hinauslief, die in der Reichsgründung von 1871 gipfeln und sich im Kulturkampf auswirken sollte. (Fs)
"Liberaler" Katholizismus
167a Es waren namentlich Kreise von akademisch gebildeten Katholiken, das Bildungsbürgertum, die in den Jahrzehnten vor dem Ersten Vatikanum um Anschluß der katholischen Bevölkerung an die allgemeine moderne kulturelle und nationale Entwicklung bemüht waren. In der bildungsbeflissenen Tradition katholischer Aufklärer wie Joh. Ignaz Heinrich von Wessenberg gründend, empfanden sie es als drängende Aufgabe, das "katholische" Bildungsdefizit und die damit gegebene kulturelle und gesellschaftliche Inferiorität des katholischen Bevölkerungsteils zu überwinden, die in der im Zuge der Säkularisation erfolgten Zerschlagung des 17 Universitäten und Hunderte von Gymnasien umfassenden katholischen Bildungssystems wurzelte. Daß dabei Zugeständnisse an den aufklärerischen, später liberalen Zeitgeist wie an den immer virulenteren nationalen Gedanken, der sich schließlich zum Nationalismus auswuchs, keineswegs immer und überall vermieden wurden, kann nicht überraschen. (Fs)
Doch wie sah es aus in der Theologie? Namentlich an den theologischen Fakultäten in Tübingen und Bonn wirkten bedeutende Geister - hier seien nur Johann Adam Möhler und Georg Hermes genannt. Nicht an Möhler, aber an seine Tübinger Kollegen und an den Bonner Hermes mag man denken, wenn Leo Scheffczyk von dem "manchmal ins Genialisch-Subjektive abgleitenden Selbstdenkertum" dieser Schulen spricht, das sich aus der Anlehnung an den philosophischen Idealismus Kants, Fichtes und Hegels ergab. In diesem Kreis ist auch ein gewisses nationales Pathos und eine engere Anlehnung an den Staat zu bemerken. (Fs)
Die "Ultramontanen"
168a Die andere Strömung, nennen wir sie einmal die ultramontane, wurde maßgeblich aus zwei Quellen gespeist. Da war einmal die ältere Mainzer Schule, deren führende Köpfe Liebermann, Räß, von Weis und Klee waren, die nicht zuletzt aus dem Erleben der Französischen Revolution und der folgenden Umbrüche eine biblisch-spekulative Theologie im Anschluß an die Scholastik entwickelten und den Grund zu einer neuen kirchlich gesinnten und pastoral orientierten Theologenausbildung legten. (Fs)
In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich nach dem Ende der napoleonischen Wirren in Rom ein ähnlicher Prozeß abgespielt, der in einer Neubelebung der Scholastik des Hochmittelalters bestand und von den Jesuiten der Gregoriana vorangetrieben wurde. Um die Jahrhundertmitte wirkten dort Giovanni Perrone, Carlo Passaglia, Clemens Schrader und Johann Baptist Franzelin, besonders einflußreich war Joseph Kleutgen. Perrone setzte sich intensiv mit der deutschen idealistischen Philosophie auseinander, Passaglia war ein hervorragender Kenner der patristischen Literatur. Sie alle waren Lehrer mehrerer Generationen von Germanikern, die, nach Hause zurückgekehrt, diese Art, Theologie zu betreiben, nach Deutschland verpflanzten. Hier ist vor allem Matthias Joseph Scheeben zu nennen, der am Priesterseminar in Köln lehrte, sowie die die Würzburger Fakultät beherrschenden Altgermaniker Heinrich Denzinger, Franz Hettinger und Joseph Hergenröther, von denen namentlich Hettinger ein hochgebildeter und begeisternder Lehrer war, dessen fünfbändiges Handbuch der Apologetik zahlreiche Auflagen erlebte. Gerade Hettinger zeigt in seinen beiden eher journalistischen und Reiseerlebnisse schildernden Bänden "Aus Welt und Kirche", welch eine Erweiterung des Horizonts das siebenjährige Studium in Rom bedeutete. Enge, auch emotionale Bindung an das Zentrum der Weltkirche, Begegnung mit zahlreichen Kommilitonen und Lehrern aus aller Herren Ländern ließen bei aller Heimatliebe dem aufkeimenden Nationalismus keinen Raum. Kirchlich und auch, was die Kultur betrifft, allerdings keineswegs ausschließlich, orientierte man sich an Rom, und so nahmen die Ex-Germaniker zusammen mit so bedeutenden nichtrömischen Neuscholastikern wie Johann Baptist Heinrich und anderen führende Stellungen in der ultramontanen Volksbewegung ein, die sich erstmals auf dem Mainzer Katholikentag von 1848 formierte und die gesellschaftlich aktiven Kräfte des katholischen Vblksteils erfaßte. (Fs)
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