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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Barock - Bruch der Harmonie; Hexenwahn; Rokoko ( "cavaliere servente")

Kurzinhalt: Kurzum - die aus der Einbindung in die großen Zusammenhänge von natürlicher und göttlicher Wahrheit und Weltordnung herausgelöste und isolierte Sinnlichkeit war, ihrer Hinordnung auf das Ganze beraubt, sich selbst und damit der Dekadenz preisgegeben.

Textausschnitt: 140c Von der Formulierung einer philosophischen Meinung bis zu deren Wirksamwerden in Kultur und Gesellschaft ist freilich ein weiter Weg. Es ist aber auch nicht zu übersehen, daß ein Keim der Spaltung in der barocken Harmonie selber bereitlag. In einer hinreißend großartigen Schau hatte der Mensch des Barock Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit, Göttliches und Menschliches, Kirche und Welt, Wissenschaft, Technik und Glauben als harmonische Bestandteile des einen gewaltigen, alles umfassenden von Gott ausgegangenen und zu Gott hinstrebenden Kosmos des Seins erblickt, und an sich selbst in der Einheit von Leib und Geist, von Natur und Gnade erlebt. (Fs)

141a War aber die Spannweite der so zur Harmonie gebrachten Gegensätze nicht zu gewaltig und umfassend, als daß der Mensch sie für länger als die Dauer einer historischen Sternstunde meistern konnte? So hatte denn auch der Konflikt zwischen dem Geistigen, der Wahrheit, und dem Psychisch-Unterschwelligen im barocken Menschen nur in kurzen Kampfespausen geruht. Ein Beispiel nur: Wir stehen heute noch oft vergeblich um Verständnis bemüht vor dem Phänomen der Hexenprozesse. Es war wohl auch das Erleben der Unheilsjahre des Dreißigjährigen Krieges gewesen, das jene Tiefen der Volksseele aufzuwühlen vermochte, in denen noch vorchristliche Dämonenangst geschlummert hatte. Allzu leicht und allzu schnell war damals auch die geistige Elite der Zeit bereit gewesen, die durch Bibel und Kirchenlehre immer festgehaltene Möglichkeit teuflischer Einwirkung auf den Menschen im konkreten Fall als Tatsache anzunehmen. So schüttelte der keineswegs auf katholisches Milieu beschränkte Hexenwahn die barocke Gesellschaft wie ein Fieber. Erst in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts wich es zurück. (Fs) (notabene)

141b Was trotz intensivster seelsorglicher Bemühungen, durch ungezählte religiös-theologische Schriften, durch oberhirtliche ebenso wie durch landesherrliche Verordnungen nie vollständig auszurotten war, war auch der Aberglaube der breiteren Volksschichten. Gerade dort, wo Himmlisches und Irdisches, Geistiges und Materielles, Rationalität und Sinnenhaftigkeit einander am intensivsten durchdringen - bei Sakramenten und Sakramentalien -, konnte er sich am leichtesten einnisten. Immer wieder begegnen denn auch Klagen über sakrilegischen Gebrauch bzw. abergläubisches Verständnis von Weihwasser, Palm- und Kräuterbüscheln, Lichtmeßkerzen und Stallsegen ... Das Preisgegebensein an Krankheit und Schmerz, an unabwendbare Armut und die Abhängigkeit von der Witterung veranlaßten keineswegs nur das Gebet um Gottes Hilfe und die Fürsprache der Heiligen, sondern auch den Versuch, durch magische Praktiken das Schicksal zu zwingen. Durch all diese Erscheinungen, die doch wohl als ein Aufbegehren des dumpfen Ungeistigen, irgendwie auch Sinnlichen, gegen den Geist zu verstehen sind, war das Gleichgewicht der barocken Universalharmonie beständig bedroht. (Fs)

142a So mag der barocke Mensch am Ende der ständigen existentiellen Anspannung müde, für die dualistischen Ideen des Descartes'schen Rationalismus reif geworden sein, so daß sie, unreflektiert hinsichtlich ihrer Konsequenzen, in den Lebensvollzug übergehen, Kultur und Gesellschaft bestimmen konnten. Zwar erlebte das Kirchenrokoko 1740 bis 1760 seinen Gipfel und seine Vollendung, danach trat - so Hubensteiner - Erstarren und Verfließen ein. Aber dies war ein Aufleuchten letzten Glanzes vor dem Verlöschen, das der noch lebendigen Glaubenskraft des Barock zu danken war, auf dessen Pathos, Ernst und Schwere erste rationale Helle fiel. Doch gilt das wohl nur vom deutschsprachigen Raum: In Frankreich etwa hatte schon das Ende des Grand siecle das aufklärerische Rokoko heraufgeführt. (Fs)

142b Hatte der philosophische Rationalismus die Vernunft verabsolutiert, so wird in diesem eine andere, zum Teil parallel verlaufende Entwicklung sichtbar, die eine Art Isolierung des Sinnlichen vom Geist mit sich brachte. Von ihr meint Egon Friedell, das Rokoko sei im Gegensatz zum Barock ein zersetzender Stil, der, rein malerisch und dekorativ, spielerisch und ornamental die bisherigen großen Formen sich in aparte Fäulnis auflösen lasse. Müde, gedämpft, anämisch und prononciert feminin nennt er das Rokoko, diesen Decadence-Stil schlechthin. Raffiniert bis zum Paroxysmus gesteigertes Genießenwollen verrät doch jene Dame, die ein köstliches Fruchteis aß und dazu meinte: "Wie schade, daß es keine Sünde ist!" So gehörte denn auch die frivolste und häufig perverse Zerstörung der Ehe durch selbst im Ehevertrag ausbedungene Liebhaber, den italienischen "cavaliere servente", der in Frankreich "le petit maitre" hieß, zum sogenannten guten Ton, und Ehemänner, die sich keine Mätressen hielten, wurden verspottet. Der Glanz, der vom Rokoko "ausströmt, ist die Phosphoreszenz der Verwesung". Das ist natürlich nicht das ganze Rokoko. (Fs)

Eine ähnliche Dekadenz stellen wir auch in den Äußerungen der Frömmigkeit fest, sofern sie sich von der Tagesmode beeinflußbar zeigten. Allzusehr schmachtete, seufzte, zerfloß man in Lied- und Gebetstexten, so daß man etwa den hl. Aloysius ansang: "Gonzaga! Schwing mit Eil' auf mich den Liebespfeil und gieße in mein Blut die Seraphinenglut!" Abgeschmackt wirken auch die besonders im Pietismus üblichen, von Blut und Wunden in makabren Details sprechenden Lieder. Umgekehrt wurde man wieder spielerisch, wenn man ein Kreuzweglied begann: "Komm, Sünder, mach dich auf und geh mit mir spazieren ..." (volkstümlich im Oberfränkischen). (Fs)

143a Kurzum - die aus der Einbindung in die großen Zusammenhänge von natürlicher und göttlicher Wahrheit und Weltordnung herausgelöste und isolierte Sinnlichkeit war, ihrer Hinordnung auf das Ganze beraubt, sich selbst und damit der Dekadenz preisgegeben. (Fs)

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