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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Universalien, das Universalienproblem; Ockham - Aristoteles; universalia als Zeichen - und doch mit Realitätsbezug

Kurzinhalt: Die These von der Dissoziierung bzw. zumindest von der Verfremdung zwischen Denken und Wirklichkeit übersieht jedoch, daß Ockham bei aller Insistenz auf seiner These, daß im Bereich der Realität des Einzeldinglichen kein Platz für das Allgemeine ist,

Textausschnitt: 112a Eben weil sich Ockham, wie wir gesehen haben, strikt gegen eine Verortung des Allgemeinen im Bereich des Einzeldinglichen wendet, macht er sich soviel Mühe mit der Widerlegung der gegenteiligen These. Nun könnte man ihm zugestehen, daß das Allgemeine weder als solches eine Realität eigener Art ist noch daß es als allgemeines Zeichen eine solche bezeichnet. Doch wenn es schon nicht selbständig ist, so könnte doch das Allgemeine mit dem Einzelnen real verbunden sein. Dies ist die These des gemäßigten Realismus, wie sie Aristoteles und in Anlehnung an ihn viele Denker des Mittelalters von Albert dem Großen über Thomas von Aquin bis hin zu Johannes Duns Scotus vertreten haben. Für sie alle ist das Allgemeine selbstverständlich kein 'Ding', sondern ein Begriff, genauso übrigens wie der Begriff des 'Einzeldings'. Alle diese Begriffe aber bezeichnen Aspekte der Realität. Das Allgemeine, so läßt sich diese Position zusammenfassen, stellt einen Realaspekt der Dinge dar ("universalia sunt in rebus"). (Fs)

112b Ockham sieht hier wieder logische Fehler und sprachliche Verwirrungen am Werk. Wenn das Allgemeine einen Realaspekt des Einzelnen darstellt, dann ist es Bestandteil desselben. Das Einzelne hat demnach Teile, welche nicht-singulärer Natur sind. Was in Wirklichkeit ein prädikationslogisches Verhältnis zwischen zwei Arten von Termini ist, wird hier irrigerweise als ein ontologisches Verhältnis von Teil und Ganzem interpretiert. Unbestreitbar gehört das Mensch-Sein zum Lebewesen-Sein; dennoch ist ersteres damit nicht "Teil" des letzteren. Schon Platon hat diese Schwierigkeit gesehen,1 doch er ist dabei geblieben, den ontologischen Status des Einzelnen von dem des Allgemeinen, der Idee her, zu bestimmen. Zu Recht hat Aristoteles dem entgegengehalten, daß damit das Einzelne als das eigentlich Reale zu einem nur abgeleiteten Seienden wird. Doch wenn daraufhin Aristoteles den ontologischen Status des Allgemeinen vom Singulären her zu bestimmen sucht, so setzt er damit in den Augen Ockhams an die Stelle des einen Fehlers nur den entgegengesetzten anderen Fehler: Denn den Status des Allgemeinen vom Einzelnen her oder den Status des Einzelnen vom Allgemeinen her zu deuten, ist gleichermaßen verfehlt. In beiden Fällen wird nämlich, wenn auch mit je anderen Vorzeichen, die Möglichkeit einer realen Bezüglichkeit zwischen Einzelnem und Allgemeinem unterstellt. Eine solche Bezüglichkeit aber ist nur auf der Ebene der Begriffe und nicht auf der Ebene der Wirklichkeit überhaupt möglich. Die notwendige Verhältnisbestimmung zwischen Einzelnem und Allgemeinem auf die Ebene der Wirklichkeit zu ziehen, führt unweigerlich zu logischen Grotesken und sprachlichen Verwirrungen. Man kann Singuläres und Allgemeines schon deswegen nicht auf ein und dieselbe ontologische Ebene stellen, weil Singuläres entweder existiert oder nicht existiert, während Allgemeines entweder prädiziert wird oder nicht prädiziert wird. Existenz und Prädikation aber stellen grundsätzlich verschiedene Ebenen dar. (Fs)

113a Führt der extreme Universalienrealismus (Platonismus) zum Problem der Weltverdopplung, so führt der gemäßigte Universalienrealismus (Aristotelismus) zur Zerstörung der Einheit des individuell Seienden. Versucht man diese Konsequenzen zu vermeiden, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als mit Ockham darauf zu beharren, daß "das von sich her Singuläre auf keine Weise und unter keiner begrifflichen Hinsicht etwas Universales ist" ("res de se singularis nullo modo nec sub aliquo conceptu est universalis". OT II, 244). Das reale Einzelding ist weder von sich selbst her noch durch irgendeinen anderen Umstand zu etwas Allgemeinem zu machen. Ockham wird nicht müde, immer wieder zu betonen, daß die Einzeldinge von sich aus keine Universalität besitzen noch auch durch irgendeinen Denkakt universal gemacht werden können. (Fs)

Kommentar (20.01.10): Zu oben "dann bleibt einem nichts anderes übrig, als mit Ockham darauf zu beharren, daß "das von sich her Singuläre auf keine Weise und unter keiner begrifflichen Hinsicht etwas Universales ist" ... Ein weiteres Beispiel seines naiven Erkenntnisansatzes.

114a Andererseits ist ihm klar, daß wir uns in der alltäglichen Kommunikation, insbesondere in wissenschaftlichen Aussagen, ständig allgemeiner Begriffe bedienen. Reden wir damit über etwas Nicht-Reales? Sind Denken und Wirklichkeit bei Ockham vollständig voneinander dissoziiert? Zu diesem Resultat sind namhafte Ockham-Interpreten gelangt.2 Die These von der Dissoziierung bzw. zumindest von der Verfremdung zwischen Denken und Wirklichkeit übersieht jedoch, daß Ockham bei aller Insistenz auf seiner These, daß im Bereich der Realität des Einzeldinglichen kein Platz für das Allgemeine ist, letzteres durchaus nicht in den Bereich des Nicht-Seins verwiesen hat. Zwar gehören die Universalien nicht zum Bereich des substantiellen Seins, doch, so Ockham, "sie deklarieren die Substanz der Dinge wie es Zeichen tun" ("universalia non sunt substantiae, nec de substantia alieuius rei, sed tantum declarant substantias rerum sicut signa". OT II, 254). Die Universalien fungieren als Zeichen, und sie tun dies, wie wir gesehen haben, auf eine 'natürliche' Weise. Zwar ist die Zuordnung eines Zeichens zu einem Wort einer bestimmten Sprache eine Frage der Übereinkunft der Sprachbenutzer, nicht aber die Verwendung des Zeichens selbst. Mit seiner Hilfe 'deklarieren' - in heutiger Terminologie würde man sagen: 'identifizieren'3 - wir das, was gegeben ist. Gleichwohl benennen wir damit nichts Allgemeines; wir verbleiben vielmehr vollständig im Bereich unserer intellektuellen Operationen und Kommunikation. Sprechen wir damit etwa von Fiktivem?

114b Mit dieser Frage verlegt Ockham das Problem des Status der Universalien auf eine neue Diskussionsebene, indem er dasselbe nicht mehr vom ontologischen Status des Einzeldinglichen her, sondern von der Funktion der Universalien her angeht. Was heißt, die Universalien befinden sich im Denken?

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