Autor: Beckmann, Jan P. Buch: Wilhelm von Ockham Titel: Wilhelm von Ockham Stichwort: Universalien, das Universalienproblem; Ockham - Duns Scotus (haecceitas, natura communis) differentia - diversitas;
Kurzinhalt: Sokrates und Platon sind von sich selbst her verschiedene Menschen; daß sie im Mensch-Sein übereinkommen, bedeutet nicht, daß 'in' ihnen eine Realität eigener Art namens 'Mensch' existiert, sondern daß von ihnen ein und derselbe Allgemeinbegriff ... Textausschnitt: 107b Bleibt zu prüfen, ob man nicht den Standpunkt vertreten kann, das Universale sei vom Einzelding zwar nicht real verschieden, doch aber irgendwie von ihm unterscheidbar? Ockham schreibt diese Position Duns Scotus zu, "der die übrigen an Subtilität des Urteils weit übertroffen hat" (a.a.O. 161). Gemeint ist die berühmte Lehre des 'Doctor subtilis' von der die Allgemeinnatur ('natura communis') im Einzelnen kontrahierenden 'Diesheit' ('haecceitas'), welche zwar zur Wirklichkeit des Einzelnen gehört, von dieser aber nicht real, sondern nur formal verschieden ist.1 Die scotischen Lehrstücke von der Allgemeinnatur, von der Haecceitas und von der Formaldistinktion hier im einzelnen darzulegen, fehlt der Raum. Die Position des Duns Scotus sieht kurzgefaßt wie folgt aus: Die Allgemeinnatur 'Mensch' stellt nicht schon für sich genommen eine Realität dar, sondern erst dann, wenn sie im Einzelfall als 'Diesheit' (dieser Mensch da, jener Mensch dort) "kontrahiert" wird. D.h.: Ein Universale wie 'Mensch' ist keine für sich bestehende platonische Idee; es ist als solches seinsindifferent. In dem Augenblick aber, in dem es in einem Einzelmenschen realisiert ist, stellt es eine eigene Sachhaltigkeit dar, welche vom Einzelmenschen zwar nicht real, wohl aber formal verschieden ist. Der formale Unterschied zwischen Sokrates und 'Mensch' bedarf zu seiner Feststellung eines erkennenden Verstandes; die von diesem erkannte Formalität ('formalitas') stellt aber nach Duns Scotus kein Produkt des Denkens dar, sondern gehört zur Realität des betreffenden Einzelwesens. (Fs) (notabene)
108a In der Auseinandersetzung mit der Lehre des Duns Scotus vom Formalunterschied bzw. vom formalen Sein2 entwickelt Ockham einen weiteren Grundsatz seiner Ontologie, nämlich den der Verschiedenheit: Unterschieden kann so manches sein, verschieden aber nur das eine reale Einzelding vom anderen realen Einzelding. Unterschiedenheit ist eine Angelegenheit des Verstandes, Verschiedenheit eine solche der Wirklichkeit. Daß von jedem einzelnen Menschen, der von jedem anderen von Natur aus verschieden ist, dasselbe Universale 'Mensch' aussagbar ist, ist nicht Ursache für die Verschiedenheit der Menschen, sondern diese ist Voraussetzung jener Prädikationsmöglichkeit. Nicht ihre Unterscheidbarkeit macht die Menschen verschieden, sondern ihre Verschiedenheit macht sie voneinander unterscheidbar. Der Mensch Sokrates ist nach Ockham von sich aus von allen anderen Menschen verschieden, nicht erst dann, wenn ein denkender Intellekt ihn von den anderen Menschen unterscheidet. Das Mensch-Sein in Sokrates ist nicht 'Teil' eines allgemeinen Mensch-Seins, denn dann würde beim Tode des Sokrates ja ein 'Teil' des allgemeinen Mensch-Seins verschwinden. Auch das Argument, Sokrates und Platon stimmten in etwas überein, worin Sokrates und ein Esel nicht übereinstimmen, nämlich 'im' Mensch-Sein, kann nicht verfangen, denn die Übereinstimmung 'im' Mensch-Sein ist nicht ein Übereinkommen in etwas Drittem, außerhalb beider Befindlichen, sondern es ist lediglich ein Bezugspunkt, den der erkennende Verstand für seine diesbezüglichen Feststellungen verwendet. Sokrates und Platon sind von sich selbst her verschiedene Menschen; daß sie im Mensch-Sein übereinkommen, bedeutet nicht, daß 'in' ihnen eine Realität eigener Art namens 'Mensch' existiert, sondern daß von ihnen ein und derselbe Allgemeinbegriff prädizierbar ist. In Formulierungen wie "Sokrates und Platon kommen im Mensch-Sein überein" breitet die Sprache Fallstricke aus, indem sie suggeriert, das Mensch-Sein stelle eine eigene Realität 'in' beiden dar, wo doch in Wirklichkeit lediglich gesagt wird, daß von beiden ein allgemeiner Begriff ausgesagt werden kann. In Ockhams Worten: "... non conveniunt in aliquo nec in aliquibus, sed ... aliquibus" - Sie kommen nicht in etwas überein, sondern sie gleichen einander (OT II, 212). (Fs) (notabene)
Kommentar (20.01.10): Wiederum zu oben: "Sokrates und Platon sind von sich selbst her verschiedene Menschen; daß sie im Mensch-Sein übereinkommen, bedeutet nicht, daß 'in' ihnen eine Realität eigener Art namens 'Mensch' existiert, ..." Solche Aussagen sind nur denkbar im Rahmen eines navien Realismus.
109a 'Unterschied' ('differentia'), so läßt sich der zuletzt genannte Gedankengang auf den Punkt bringen, ist nicht dasselbe wie 'Verschiedenheit' ('diversitas'): Letzteres erfordert einen Realbezug, ersteres dagegen nicht. Verschieden sind Sokrates und Platon von sich her und ohne daß es dazu der Feststellung eines denkenden Wesens bedürfte; unterschieden jedoch sind sie hinsichtlich bestimmter Aspekte; hierzu bedarf es der Feststellung durch ein erkennendes Wesen.3 Der Grund dafür, daß die Einzeldinge von sich aus verschieden sind, hegt nach Ockham in ihrer Singularität. Alles denkunabhängig Reale ist als solches und von sich her ein Einzelnes. Es bedarf dazu weder eines Denkens, welches es als ein Einzelnes erkennt, noch stellt dieses Einzelsein eine eigene zusätzliche Realität dar (vgl. OT II, 196f). Darum auch stellt sich für Ockham das Problem der Individuation, welches Thomas durch die Theorie von der "materia quantitate signata" und Duns Scotus durch die genannte These von der 'haecceitas' zu lösen suchten, gar nicht erst. Realität und Singularität sind notwendig und untrennbar miteinander verbunden. (Fs) (notabene)
Kommentar (20.01.10): Zu oben differentia, diversitas: "Verschieden sind Sokrates und Platon von sich her und ohne daß es dazu der Feststellung eines denkenden Wesens bedürfte; unterschieden jedoch sind sie hinsichtlich bestimmter Aspekte; hierzu bedarf es der Feststellung durch ein erkennendes Wesen" Ein schönes Beispiel für einne naiven Realismus.
110a Ockham resümiert daher: Was ist, was Realität außerhalb des Denkens besitzt, ist ausschließlich singulär. Wir sehen um uns herum nicht Bäume, sondern diese Fichte hier und jene Tanne dort. Auf der Straße treffen wir nicht den Menschen, sondern ausschließlich Einzelmenschen wie Paul, Maria und Johannes. Alle diese 'singularia' existieren, auch wenn keinerlei Denken und Erkennen sie wahrnimmt. In dieser Welt der Einzeldinge und des vom Denken Unabhängigen ist kein Platz für Nicht-Einzelnes, Allgemeines, Universales. Gegen die meisten seiner Vorgänger und viele seiner Zeitgenossen, welche, wie Thomas von Aquin und Duns Scotus, dem Allgemeinen ein Fundament in den Einzeldingen einräumen, bleibt Ockham strikt bei seiner These, daß dies ein sprachlich induzierter Irrtum, genauer: ein Verstoß gegen die Grammatik des Existenzprädikators 'ist seiend' ("est ens") ist. In Aussagen von der Art "Sokrates ist seiend" ("Socrates est ens") stehen der Subjektterm und der Prädikatterm für ein und dasselbe, nämlich für ein individuelles, vom Denken unabhängiges Phänomen der Außenwelt. Dagegen steht in Aussagen von der Art "Sokrates gehört zur Spezies homo sapiens" der Subjektterm nicht für dasselbe wie der Prädikatterm; der Subjektterm steht für ein vom Denken unabhängiges Einzelwesen, während der Prädikatterm für ein vom Denken abhängiges Universale supponiert. (Fs) (notabene)
110b So strikt Ockham an seiner Konzeption der Wirklichkeit der Dinge als einer ausschließlich einzeldinglichen Wirklichkeit festhält, so deutlich ist ihm andererseits, daß dies nur einen Teil der denkerischen und sprachlichen Möglichkeiten des Menschen berücksichtigt. Denn wir sprechen nicht nur von Einzeldinglichem wie dieser Tanne hier und jener Fichte dort und nicht nur von Einzelmenschen wie Paul, Maria und Johannes, sondern auch und noch viel häufiger von Bäumen und von Menschen, ohne dabei konkrete Einzelphänomene in den Blick zu nehmen. Ockham ist sich durchaus des Umstandes bewußt, daß menschliche Kommunikation enorm eingeschränkt, wenn nicht gar unmöglich wäre, gäbe es die Allgemeinbegriffe nicht. Nur: Mit ihnen verlassen wir den Bereich des Realen und Einzelnen und gehen über in den Bereich gedanklicher Übereinkünfte. (Fs)
111a Nun würden auch Thomas und Duns Scotus nicht behaupten wollen, die Rede von 'Bäumen' und 'Menschen' unterscheide sich nicht von der Rede über 'die Tanne hier' und 'der Mensch dort'. Doch wenn sie behaupten, 'Baum' oder 'Mensch' bezeichneten etwas in den Einzelphänomenen Vorhandenes, so machen sie aus sprachlichen Gegebenheiten Realitäten. Dies aber ist nicht nur unnötig, sondern auch in höchstem Maße fragwürdig. Allgemeinbegriffe sind alleinige Sache des Verstandes; dessen Überlegung ist "dem einzelnen Ding gegenüber etwas total Äußerliches" ("... est aliquid totaliter extrinsecum ipsi rei ..." OT II, 249). Der Verstand macht nicht das Einzelding zu etwas Allgemeinem, sondern er subsumiert das Einzelding unter seine Kategorien. Er verwendet diese Kategorien als Zeichen für die Einzeldinge, ohne daß diese Zeichen etwas in den Einzeldingen Vorhandenes und ihnen Gemeinsames bezeichnen würden. Anders als die natürlichen Zeichen, die - wie der Rauch vom Feuer - von den Einzeldingen verursacht sind, sind die vom Verstande verwendeten Zeichen ausschließlich vom Denken verursacht. Und wenn der Verstand Definitionen von der Art "Die Tanne ist ein Nadelbaum" oder "Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen" verwendet, so geben diese Definitionen nicht ein in den einzelnen realen Tannen bzw. in den einzelnen Menschen vorhandenes allgemeines Wesen an, sondern sie sagen lediglich etwas über die Verwendung solcher Zeichen (vgl. OT II, 252ff). Wir verwenden das Zeichen 'Baum' korrekt, wenn wir uns an die Übereinkunft halten, aufgrund derer es für diese Tanne hier und jene Fichte dort Verwendung findet. Und wir kennen die Grammatik der Termini 'Spezies' und 'vernunftbegabt', wenn wir wissen, daß dies nur von 'singularia', nämlich den einzelnen Menschen, prädizierbar ist. Daß die Spezies 'Mensch' zur Gattung 'Lebewesen' gehört, ist eine Metaaussage über die Spezies, keine Direktaussage von etwas 'Spezieshaftem' ("genus praedicatur de specie, non pro specie". OT II, 259). Freilich: Daß alles, was Mensch ist, zugleich auch Lebewesen ist, sagt doch etwas über die Wirklichkeit aus. Ist nicht das Allgemeine doch "irgendwie" ("aliquo modo") auf Seiten des einzeldinglich Realen zu verorten?
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