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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Jesus; 4. Gebot; Neusner; konkrete politische und soziale Ordnungen - Sakralität; absolute Profanität, Laizismus; Legalismus - Marcion (Harnack); politische Theologien


Kurzinhalt: Im Fall Jesu ist es nicht die alle verbindende Anhängerschaft gegenüber der Tora, die eine neue Familie bildet, sondern es geht um die Anhängerschaft an Jesus selbst, seiner Tora gegenüber.

Textausschnitt: Das 4. Gebot - die Familie, das Volk und die jüngergemeinde Jesu

145a Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt" - so lautet das 4. Gebot in der Version des Exodus-Buches (20,12). Das Gebot wendet sich an die Söhne und spricht von den Eltern, richtet also den Zusammenhang der Generationen und die Gemeinschaft der Familie als eine von Gott gewollte und geschützte Ordnung auf. Es spricht vom Land und von der Beständigkeit des Lebens im Land, verbindet also das Land als Lebensraum des Volkes mit der Grundordnung der Familie, bindet das Bestehen von Volk und Land an das im Gefüge der Familie sich bildende Miteinander der Generationen. (Fs)

145b Nun sieht Rabbi Neusner mit Recht in diesem Gebot den Kern der sozialen Ordnung, den Zusammenhalt des "ewigen Israel" verankert - diese "wirkliche, lebendige und gegenwärtige Familie von Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob, Lea und Rahel" (a. a. O., S. 59; vgl. S. 73). Genau diese Familie Israels sieht Neusner durch die Botschaft Jesu bedroht, die Grundlagen seiner sozialen Ordnung beiseitegeschoben durch den Primat seiner Person: "Wir beten zu dem Gott, den wir - am Anfang - durch das Zeugnis unserer Familie kennen, zum Gott Abrahams, Saras, Isaaks und Rebekkas, Jakobs, Leas und Rahels. Um zu erklären, wer wir, das ewige Israel, sind, verweisen die Gelehrten auf unsere Abstammung, auf fleischliche Bande, auf den Zusammenhalt der Familie als Grundlage für die Existenz Israels" (S. 59t). (Fs)

146a Genau diesen Zusammenhang stellt Jesus in Frage. Ihm wird gesagt, dass seine Mutter und seine Brüder draußen stehen und ihn sprechen wollen. Seine Antwort darauf: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand über seine Jünger aus und sagte: "Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter" (Mt 12,46-50). (Fs)

146b Angesichts dieses Textes fragt Neusner: "Lehrt mich Jesus nicht, gegen eines der beiden Gebote zur sozialen Ordnung zu verstoßen?" (S. 60). Der Vorwurf ist dabei ein doppelter: Zunächst geht es um den scheinbaren Individualismus der Botschaft Jesu. Während die Tora eine präzise Sozialordnung vorlegt, dem Volk seine Rechtsund Sozialgestalt für Krieg und Frieden, für rechte Politik und für das tägliche Leben gibt, ist nichts davon bei Jesus zu finden. Die Nachfolge Jesu bietet keine politisch konkret realisierbare Sozialstruktur. Auf die Bergpredigt könne man keinen Staat und keine Sozialordnung aufbauen, wird mit Recht immer wieder gesagt. Ihre Botschaft scheint auf einer anderen Ebene angesiedelt. Israels Ordnungen, die seinen Bestand die Jahrtausende hindurch und durch alle Wirrnisse der Geschichte hinweg gewährleistet haben, werden beiseitegeschoben. Von dieser neuen Interpretation des 4. Gebotes ist nicht nur das Eltern-Kind-Verhältnis betroffen, sondern der gesamte Bereich der Sozialstruktur des Volkes Israel. (Fs)

147a Diese Umschichtung auf der Ebene des Sozialen findet ihren Grund und ihre Rechtfertigung im Anspruch Jesu, mit seiner Jüngergemeinschaft Ursprung und Mitte eines neuen Israel zu sein: Wir stehen wieder vor dem Ich Jesu, der auf der Höhe der Tora selbst, auf der Höhe Gottes spricht. Die beiden Sphären - Änderung der Sozialstruktur, Aufbrechen des "ewigen Israel" in eine neue Gemeinde hinein und der göttliche Anspruch Jesu - sind unmittelbar miteinander verknüpft. (Fs)

147b Neusner macht es sich dabei mit seiner Kritik nicht leicht. Er erinnert daran, "dass auch Schüler der Tora von ihren Lehrern von Haus und Familie weggerufen würden und Frau und Kinder für lange Zeit den Rücken kehren müssten, um sich ganz dem Studium der Tora zu widmen" (S. 62). "Die Tora tritt damit an die Stelle der Abstammung, und der Meister der Tora erhält einen neuen Familienstamm" (S. 65). So scheint Jesu Forderung, eine neue Familie zu eröffnen, sich durchaus im Rahmen dessen zu bewegen, was in der Schule der Tora - im "ewigen Israel" - möglich ist. (Fs)

147c Und doch besteht ein grundlegender Unterschied. Im Fall Jesu ist es nicht die alle verbindende Anhängerschaft gegenüber der Tora, die eine neue Familie bildet, sondern es geht um die Anhängerschaft an Jesus selbst, seiner Tora gegenüber. Bei den Rabbinen bleiben alle durch die gleichen Beziehungen einer dauerhaften sozialen Ordnung verbunden, bleiben alle durch die Unterwerfung unter die Tora in der Gleichheit des ganzen Israel. So konstatiert Neusner am Ende: "... jetzt ist mir klar, dass das, was Jesus von mir fordert, allein Gott von mir verlangen kann" (S. 70). (Fs)

148a Es zeigt sich das Gleiche wie oben bei der Analyse des Sabbatgebotes. Das christologische (theologische) und das soziale Argument sind unlösbar ineinander verknotet. Wenn Jesus Gott ist, kann und darf er so mit der Tora umgehen, wie er es tut. Nur dann darf er die mosaische Ordnung der Gottesgebote so radikal neu interpretieren, wie es allein der Gesetzgeber - Gott selbst - tun kann. (Fs)

148b Aber nun ist die Frage: War es denn gut und richtig, eine solche neue Jüngergemeinde zu schaffen, die ganz auf ihn gegründet war? War es gut, die Sozialordnungen des "ewigen Israel", das von Abraham, Isaak und Jakob her durch Fleischesbande gegründet ist und besteht, beiseitezuschieben, es (wie Paulus sagen wird) zu "Israel dem Fleische nach" zu erklären? Welchen erkennbaren Sinn konnte dies alles haben?

148c Nun, wenn wir die Tora mit dem gesamten alttestamentlichen Kanon, den Propheten und den Psalmen und der Weisheitsliteratur zusammen lesen, dann wird etwas sehr deutlich, was sich der Sache nach auch in der Tora schon ankündigt: Israel ist nicht einfach nur für sich selber da, um in den "ewigen" Ordnungen des Gesetzes zu leben - es ist da, um Licht der Völker zu werden: In den Psalmen wie in den Prophetenbüchern hören wir mit wachsender Deutlichkeit die Verheißung, dass das Heil Gottes zu allen Völkern kommen wird. Wir hören immer deutlicher, dass der Gott Israels, der ja der einzige Gott selber ist, der wahre Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Gott aller Völker und aller Menschen, in dessen Händen das Geschick der Völker steht - dass dieser Gott die Völker nicht sich selbst überlassen will. Wir hören, dass alle ihn erkennen werden, dass Ägypten und Babel - die beiden Israel entgegengesetzten Weltmächte - Israel die Hände reichen und mit ihm den einen Gott anbeten werden. Wir hören, dass die Grenzen fallen werden und dass der Gott Israels von allen Völkern als ihr Gott, als der eine Gott anerkannt und verehrt werden wird. (Fs)

149a Gerade von jüdischer Seite wird - durchaus zu Recht - immer wieder gefragt: Was hat denn euer "Messias" Jesus gebracht? Er hat nicht den Weltfrieden gebracht und das Elend der Welt nicht überwunden. So kann er doch wohl der wahre Messias nicht sein, von dem gerade dies erwartet wird. Ja, was hat Jesus gebracht? Der Frage sind wir schon begegnet, und auch die Antwort kennen wir bereits: Er hat den Gott Israels zu den Völkern getragen, so dass alle Völker nun zu ihm beten und in den Schriften Israels sein Wort, des lebendigen Gottes Wort erkennen. Er hat die Universalität geschenkt, die die eine große und prägende Verheißung an Israel und an die Welt ist. Die Universalität, der Glaube an den einen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs in der neuen Familie Jesu über alle Völker hin und über die fleischlichen Bande der Abstammung hinaus - das ist die Frucht von Jesu Werk. Das ist es, was ihn als den "Messias" ausweist und der messianischen Verheißung eine Deutung gibt, die in Mose und den Propheten gründet und sie freilich auch ganz neu aufschließt. (Fs) (notabene)

149b Das Vehikel dieser Universalisierung ist die neue Familie, die als ihre einzige Voraussetzung die Gemeinschaft mit Jesus, die Gemeinschaft im Willen Gottes hat. Denn das Ich Jesu steht nun eben doch nicht als ein eigenwilliges, in sich kreisendes Ego da. "Wer den Willen meines Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter" (Mk 3,34f): Das Ich Jesu verkörpert die Willensgemeinschaft des Sohnes mit dem Vater. Es ist ein hörendes und gehorchendes Ich. Die Gemeinschaft mit ihm ist Sohnesgemeinschaft mit dem Vater - ist auf neuer und höchster Ebene Ja zum 4. Gebot. Sie ist Eintreten in die Familie derer, die zu Gott Vater sagen und es sagen können im Wir derjenigen, die mit Jesus und - durch das Hören auf ihn - dem Willen des Vaters geeint sind und so im Kern jenes Gehorsams stehen, den die Tora meint. (Fs)

150a Diese Einheit mit dem Willen des Vatergottes durch die Gemeinschaft mit Jesus, dessen Speise es ist, den Willen des Vaters zu tun (vgl. Joh 4,34), eröffnet nun auch den neuen Blick auf die Einzelbestimmungen der Tora. Die Tora hatte in der Tat die Aufgabe, Israel eine konkrete Rechts- und Sozialordnung zu geben, diesem besonderen Volk, das einerseits ein ganz bestimmtes, durch Abstammung und Generationenfolge ineinandergebundenes Volk ist, aber andererseits von Anfang an und seinem Wesen nach Träger einer universalen Verheißung ist. In der neuen Familie Jesu, die man später "die Kirche" nennen wird, können diese einzelnen Sozial- und Rechtsordnungen in ihrer historischen Wörtlichkeit nicht allgemein gelten: Das war genau die Frage am Anfang der "Kirche aus allen Völkern" und der Streit zwischen Paulus und den sogenannten Judaisten. Die Sozialordnung Israels wörtlich auf Menschen in allen Völkern zu übertragen, hätte bedeutet, die Universalität der wachsenden Gottesgemeinschaft faktisch zu negieren. Das hat Paulus mit aller Klarheit gesehen. Das konnte die Tora des Messias nicht sein. Und sie ist es nicht, wie uns die Bergpredigt und das ganze Gespräch des gläubigen und wahrhaft aufmerksam hörenden Rabbi Neusner zeigt. (Fs)

150b Hier geschieht freilich ein ganz wichtiger Vorgang, der in seiner vollen Tragweite erst in der Neuzeit erfasst und dann freilich auch gleich wieder einseitig verstanden und verfälscht worden ist. Die konkreten Rechts- und Sozialgestalten, die politischen Ordnungen werden nicht mehr als sakrales Recht buchstäblich für alle Zeiten und damit für alle Völker festgelegt. Entscheidend ist die grundlegende Willensgemeinschaft mit Gott, die durch Jesus geschenkt ist. Von ihr her sind die Menschen und die Völker nun frei, zu erkennen, was in politischer und sozialer Ordnung dieser Willensgemeinschaft gemäß ist, um so selbst die rechtlichen Ordnungen zu gestalten. Das Fehlen der ganzen Sozialdimension in Jesu Predigt, das Neusner aus jüdischer Sicht durchaus einsichtig kritisiert, birgt und verbirgt zugleich einen weltgeschichtlichen Vorgang, der als solcher in keinem anderen Kulturraum stattgefunden hat: Die konkreten politischen und sozialen Ordnungen werden aus der unmittelbaren Sakralität, aus der gottesrechtlichen Gesetzgebung entlassen und der Freiheit des Menschen übertragen, der durch Jesus im Willen Gottes gegründet ist und von ihm aus das Recht und das Gute sehen lernt. (Fs) (notabene)

151a So sind wir wieder bei der Tora des Messias, beim Galater-Brief angelangt: "Zur Freiheit seid ihr berufen" (Gal 5,13) - nicht zu einer blinden und willkürlichen Freiheit, zu einer "fleischlich verstandenen Freiheit", würde Paulus sagen, sondern zu einer sehenden Freiheit, die ihre Verankerung in der Willensgemeinschaft mit Jesus und so mit Gott selber hat, zu einer Freiheit also, die aus einem neuen Sehen heraus eben das baut, worum es in der Tora zutiefst geht, sie von innen heraus mit Jesus universalisiert und sie daher wirklich "erfüllt". (Fs)

151b Inzwischen ist freilich diese Freiheit ganz aus dem Blick auf Gott und aus der Gemeinschaft mit Jesus herausgerissen worden. Die Freiheit zur Universalität und damit zur rechten Profanität des Staates ist in eine absolute Profanität - in "Laizismus" - umgewandelt worden, für die die Gottvergessenheit und die Bindung allein an den Erfolg konstitutiv geworden scheinen. Für den gläubigen Christen bleiben die Weisungen der Tora durchaus ein Bezugspunkt, auf den er immer hinschaut; für ihn bleibt vor allem die Suche nach dem Willen Gottes in der Gemeinschaft mit Jesus eine Wegweisung für die Vernunft, ohne die sie immer in der Gefahr der Verblendung, der Erblindung steht. (Fs) (notabene)

152a Noch eine Beobachtung ist wesentlich. Diese Universali-sierung von Israels Glauben und Hoffen, die damit verbundene Freigabe des Buchstabens in die neue Gemeinschaft mit Jesus, ist gebunden an die Autorität Jesu und an seinen Anspruch als Sohn. Sie verliert ihr historisches Gewicht und ihren tragenden Grund, wenn man Jesus bloß als einen liberalen Reform-Rabbi abinterpretiert. Eine liberale Auslegung der Tora wäre eine bloß persönliche Meinung eines Lehrers - sie könnte nicht geschichtsbildend sein. Dabei würde im Übrigen auch die Tora, ihre Herkunft aus Gottes Willen, relativiert; für alles Gesagte bliebe nur eine menschliche Autorität: die Autorität eines Gelehrten. Daraus entsteht keine neue Gemeinschaft des Glaubens. Der Sprung in die Universalität, die dafür notwendige neue Freiheit, kann nur durch einen größeren Gehorsam ermöglicht werden. Er kann als geschichtsbildende Kraft nur wirksam werden, wenn die Autorität dieser neuen Auslegung nicht geringer ist als die des ursprünglichen Textes selbst: Es muss eine göttliche Autorität sein. Die neue, universale Familie ist das Wozu der Sendung Jesu, aber seine göttliche Autorität - das Sohnsein Jesu in der Gemeinschaft mit dem Vater - ist die Voraussetzung, damit dieser Ausbruch ins Neue und Weite ohne Verrat und ohne Eigenmacht möglich wird. (Fs) (notabene)

153a Wir haben gehört, dass Neusner Jesus fragt: Willst du mich zur Übertretung von zwei oder drei Geboten Gottes verführen? Wenn Jesus nicht in der Vollmacht des Sohnes spricht, wenn seine Auslegung nicht Anfang einer neuen Gemeinschaft eines neuen freien Gehorsams ist, dann bleibt nur dies übrig: Dann verführt Jesus zum Ungehorsam gegen Gottes Gebot. (Fs)

153b Für die Christenheit aller Zeiten ist es grundlegend, den Zusammenhang von Überschreitung (etwas anderes als "Übertretung") und Erfüllung sorgsam im Auge zu haben. Neusner kritisiert - wir sahen es - bei aller Ehrfurcht vor Jesus mit großer Entschiedenheit die Auflösung der Familie, die er in Jesu Aufforderung zum "Übertreten" des 4. Gebotes gegeben sieht; desgleichen die Bedrohung des Sabbat, der einen Angelpunkt der Sozialordnung Israels darstellt. Nun, Jesus will weder die Familie noch die Schöpfungsintention des Sabbat aufheben, aber er muss für beides einen neuen, weiteren Raum schaffen. Mit seiner Einladung, durch den gemeinsamen Gehorsam zum Vater mit ihm Glied einer neuen, universalen Familie zu werden, sprengt er zwar zunächst die soziale Ordnung Israels. Aber für die nun werdende und gewordene Kirche war es von Anfang an grundlegend, die Familie als Kern aller Sozialordnung zu verteidigen, für das 4. Gebot in der ganzen Breite seiner Bedeutung einzutreten: Wir sehen es, wie heute der Kampf der Kirche darum geht. Und ebenso wurde schnell deutlich, dass der wesentliche Gehalt des Sabbat am Herrentag neu zur Entfaltung kommen musste. Auch der Kampf um den Sonntag gehört zu den großen Anliegen der Kirche in der Gegenwart mit all ihren Auflösungen eines die Gemeinschaft tragenden Rhythmus der Zeit. (Fs) (notabene)

154a Das rechte Ineinander von Altem und Neuem Testament war und ist für die Kirche konstitutiv: Gerade die Reden des Auferstandenen legen Wert darauf, dass Jesus nur im Kontext von "Gesetz und Propheten" zu verstehen ist und dass seine Gemeinschaft nur in diesem rechtverstandenen Kontext leben kann. Zwei gegensätzliche Gefahren haben die Kirche in dieser Sache von Anfang an bedroht und werden sie immer bedrohen. Auf der einen Seite ein falscher Legalismus, gegen den Paulus kämpft und den man in der ganzen Geschichte leider unter den unglücklichen Namen "Judaismus" gestellt hat. Auf der anderen Seite steht die Abstoßung von Mose und Propheten - des "Alten Testaments" -, die zuallererst Marcion im 2. Jahrhundert formuliert hatte; sie gehört zu den großen Versuchungen der Neuzeit. Es ist nicht zufällig, dass Harnack als führender Vertreter der liberalen Theologie verlangte, nun endlich das Erbe Marcions zu vollstrecken und die Christenheit von der Last des Alten Testaments zu befreien. Die heute weitverbreitete Versuchung, das Neue Testament rein spirituell auszulegen und es von jeder sozialen und politischen Relevanz zu lösen, geht in diese Richtung. (Fs) (notabene)

154b Umgekehrt bedeuten politische Theologien aller Art die Theologisierung eines einzelnen politischen Weges, die der Neuheit und der Weite der Botschaft Jesu widerspricht. Dennoch wäre es falsch, derlei Tendenzen als Judaisierung des Christentums zu bezeichnen, weil Israel seinen Gehorsam gegen die konkreten Sozialordnungen der Tora auf die Abstammungsgemeinschaft des "ewigen Israel" bezieht und nicht zu einem universalen politischen Rezept erklärt. Insgesamt wird es der Christenheit guttun, ehrfürchtig auf diesen Gehorsam Israels hinzuschauen und so die großen Imperative des Dekalogs besser wahrzunehmen, die die Christenheit in den Raum der universalen Gottesfamilie übertragen muss und die Jesus uns als "neuer Mose" geschenkt hat. In ihm sehen wir die Mose-Verheißung erfüllt: "Einen Propheten wie mich wird der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte heraus erstehen lassen ..." (Dtn 18,15). (Fs)

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