Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Jesus von Nazareth 1 Titel: Jesus von Nazareth Stichwort: Jesus; Streit um den Sabbat; Selbstverständnis J. als Tora Kurzinhalt: Neusner. "Er (Jesus) und seine Jünger können am Sabbat das tun, was sie tun, weil sie an die Stelle der Priester im Tempel getreten sind: Der heilige Ort hat sich verlagert, ...
Textausschnitt: Der Streit um den Sabbat
138a Folgen wir dem Dialog Neusners, des gläubigen Juden, mit Jesus und beginnen wir mit dem Sabbat; ihn sorgsam einzuhalten, ist für Israel zentraler Ausdruck seiner Existenz als Leben im Bunde mit Gott. Auch dem oberflächlichen Leser der Evangelien ist bekannt, dass der Streit darum, was zum Sabbat gehört und was nicht, im Zentrum der Auseinandersetzung Jesu mit dem Volk Israel seiner Zeit steht. Die übliche Auslegung geht dahin, zu sagen, dass Jesus eine engstirnige legalistische Praxis aufgebrochen und stattdessen eine großzügigere, freiheitlichere Sicht geschenkt habe, die einem vernünftigen, situationsgemäßen Handeln die Tür auftue. Als Beleg dafür dient der Satz: "Der Sabbat ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um des Sabbats willen" (Mk 2,27), worin man eine anthropozentrische Sicht der ganzen Wirklichkeit findet, aus der sich eine "liberale" Auslegung der Gebote von selbst ergeben würde. So hat man gerade aus den Sabbat-Streitigkeiten das Bild des liberalen Jesus abgeleitet. Seine Kritik am Judentum seiner Zeit sei die Kritik des freiheitlichen und vernünftig gesonnenen Menschen an einem verknöcherten Legalismus, der im Tiefsten Heuchelei bedeute und Religion zu einem knechtischen System von letztlich unvernünftigen Verpflichtungen erniedrige, das den Menschen an der Entfaltung seines Werkes und seiner Freiheit hindere. Dass dabei kein sehr freundliches Bild des Judentums entstehen konnte, versteht sich von selbst; die moderne Kritik - beginnend mit der Reformation - sah freilich das so gesehene "Jüdische" im Katholizismus wiedergekehrt. (Fs) (notabene)
139a Jedenfalls steht hier die Frage nach Jesus - wer er wirklich war und was er wirklich wollte - und auch die ganze Frage nach der Wirklichkeit von Judentum und Christentum zur Debatte: War Jesus in Wirklichkeit ein liberaler Rabbi - ein Vorläufer des christlichen Liberalismus? Ist also der Christus des Glaubens und demnach der ganze Glaube der Kirche ein großer Irrtum? (Fs)
139b Neusner schiebt diese Art von Auslegung überraschend schnell beiseite; er darf es, weil er überzeugend den wirklichen Streitpunkt bloßlegt. Zu dem Streit über das Ährenraufen der Jünger sagt er nur: "Was mich beunruhigt, ist folglich nicht der Verstoß der Jünger gegen das Gebot, den Sabbat zu halten. Das wäre trivial und ginge am Kern der Sache vorbei" (a. a. O., S. 87). Gewiss, wenn wir den Streit um die Heilungen am Sabbat und die Berichte über die zornige Trauer des Herrn ob der Herzenshärte der Vertreter der herrschenden Sabbatauslegung lesen, sehen wir, dass in diesen Auseinandersetzungen die tieferen Fragen um den Menschen und um die rechte Weise, Gott zu ehren, im Spiel sind. Insofern ist auch diese Seite des Konflikts gewiss nicht einfach "trivial". Aber Neusner hat doch recht, wenn er in der Antwort Jesu beim Streit um das Ährenraufen am Sabbat den tiefsten Kern des Konflikts offengelegt findet. (Fs)
139c Jesus verteidigt die Vorgehensweise, in der die Jünger ihren Hunger stillen, zuerst mit dem Hinweis auf David, der mit seinen Begleitern im Haus Gottes heilige Brote aß, "die weder er noch seine Begleiter, sondern nur die Priester essen durften." Dann fährt er fort: "Oder habt ihr nicht im Gesetz gelesen, dass am Sabbat die Priester im Tempel den Sabbat entweihen, ohne sich schuldig zu machen? Ich sage euch: Hier ist einer, der größer ist als der Tempel. Wenn ihr begriffen hättet, was es heißt 'Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer' (Hos 6,6 [vgl. auch 1 Sam 15,22]), dann hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt; denn der Menschensohn ist Herr über den Sabbat (Mt 12,1-8)" (ebd., S. 76). Dazu Neusner. "Er (Jesus) und seine Jünger können am Sabbat das tun, was sie tun, weil sie an die Stelle der Priester im Tempel getreten sind: Der heilige Ort hat sich verlagert, er besteht jetzt aus dem Kreis des Meisters und seiner Jünger" (S. 86f). (Fs)
140a Hier müssen wir einen Augenblick innehalten, um zu sehen, was der Sabbat für Israel bedeutete, und so auch zu begreifen, was bei diesem Disput auf dem Spiel steht. Gott hat am siebten Tage geruht - so sagt uns der Schöpfungsbericht. "An diesem Tag feiern wir die Schöpfung", folgert Neusner mit Recht (S. 77). Und weiter: "Denn am Sabbat nicht zu arbeiten bedeutet mehr, als ein Ritual peinlich genau zu erfüllen. Es ist eine Art Nachahmung Gottes" (S. 78). So gehört zum Sabbat nicht nur negativ das Nichttun von äußeren Aktivitäten, sondern positiv die "Ruhe", die sich auch räumlich ausdrücken muss: "Um den Sabbat einzuhalten, muss man folglich zu Hause bleiben. Der Verzicht auf jegliche Arbeit allein genügt nicht, man muss auch ruhen, und das bedeutet soviel, dass an einem Tag in der Woche der Kreis von Familie und Haus wiederhergestellt wird, indem jeder zu Hause und alles an seinem Platz ist" (S. 84). Der Sabbat ist nicht nur eine Frage der persönlichen Frömmigkeit, er ist Kern einer Sozialordnung: "Dieser Tag macht das ewige Israel zu dem, was es ist, zu dem Volk, das sich wie Gott nach der Schöpfung am siebten Tage von seiner Schöpfung ausruht" (S. 77). (Fs)
141a Hier könnte man wohl darüber nachdenken, wie heilsam es auch für unsere gegenwärtige Gesellschaft wäre, wenn an einem Tag die Familien beieinanderbleiben, das Heim zum Haus und zur Erfüllung der Gemeinschaft in der Ruhe Gottes machen würden. Aber versagen wir uns an dieser Stelle solche Überlegungen und bleiben wir beim Dialog zwischen Jesus und Israel, der unausweichlich ein Dialog auch zwischen Jesus und uns wie unser Dialog mit dem jüdischen Volk heute ist. (Fs)
141b Das Stichwort von der "Ruhe" als konstitutivem Element des Sabbat stellt für Neusner die Verbindung her zu dem Ruf Jesu, der im Matthäus-Evangelium der Geschichte vom Ährenraufen der Jünger vorangeht. Es ist der sogenannte messianische Jubelruf, der so beginnt: "Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast..." (Mt 11,25-30). In unserer gewohnten Auslegung scheinen dies zwei ganz verschiedene Texte zu sein: Der eine spricht von der Göttlichkeit Jesu, der andere vom Streit um den Sabbat. Bei Neusner wird sichtbar, dass die zwei Texte ganz eng zueinandergehören, denn beide Male geht es um das Geheimnis Jesu - um den "Menschensohn", den "Sohn" schlechthin. (Fs)
141c Die Sätze, die unmittelbar der Sabbatgeschichte vorausgehen, lauten so: "Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig: So werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht" (Mt 11,28-30). Gewöhnlich wird dies von der Idee des liberalen Jesus her, also moralistisch ausgelegt: Die liberale Gesetzesauffassung Jesu erleichtert das Leben gegenüber dem "jüdischen Legalismus". Sehr überzeugend ist freilich diese Auslegung in der Praxis nicht, denn die Nachfolge Christi ist nicht bequem - gerade das hatte Jesus auch nie behauptet. Aber was dann? (Fs)
142a Neusner zeigt uns, dass es nicht um eine Form von Moralismus geht, sondern um einen hoch-theologischen, oder sagen wir es genauer: um einen christologischen Text. Durch das Thema der Ruhe und das damit zusammenhängende Thema von Mühsal und Last ist der Text der Sabbatfrage zugeordnet. Die Ruhe, um die es geht, hat nun mit Jesus zu tun. Jesu Lehre vom Sabbat erscheint nun gerade im Zusammenklang dieses Rufes und des Wortes vom Menschensohn als dem Herrn des Sabbat. (Fs)
142b Neusner fasst den Inhalt des Ganzen so zusammen: "Mein Joch ist leicht, ich gebe euch Ruhe, der Menschensohn ist wahrhaftig Herr über den Sabbat, denn der Menschensohn ist jetzt der Sabbat Israels - so handeln wir wie Gott" (S. 90). (Fs) (notabene)
142c Jetzt kann Neusner noch klarer als vorher sagen: "Kein Wunder also, dass der Menschensohn Herr über den Sabbat ist! Er ist es nicht deshalb, weil er die Beschränkungen des Sabbats liberal auslegt ... Jesus war kein rabbinischer Reformator, der den Menschen das Leben 'leichter' machen wollte ... Nein, es geht hier nicht um die Erleichterung einer Last ... Jesu Autorität steht auf dem Spiel ..." (S. 89). "Jetzt steht Christus auf dem Berg und nimmt den Platz der Tora ein" (S. 91). Das Gespräch des gläubigen Juden mit Jesus kommt hier an den entscheidenden Punkt. Nun fragt er in seiner noblen Scheu nicht Jesus selbst, sondern den Jünger Jesu: "'Ist dein Meister, der Menschensohn, wirklich Herr über den Sabbat?' Und wieder frage ich: 'Ist dein Meister Gott?'" (S. 92). (Fs)
143a Damit ist der eigentliche Kernpunkt des Streits bloßgelegt. Jesus versteht sich selbst als die Tora - als das Wort Gottes in Person. Der gewaltige Prolog des Johannes-Evangeliums "Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott" sagt nichts anderes, als was der Jesus der Bergpredigt und der Jesus der synoptischen Evangelien sagt. Der Jesus des vierten Evangeliums und der Jesus der Synoptiker ist ein und derselbe: der wahre "historische" Jesus. (Fs)
143b Der Kern der Sabbat-Streitigkeiten ist die Frage nach dem Menschensohn - die Frage nach Jesus Christus selbst. Wieder sehen wir, wie weit Harnack und die ihm folgende liberale Exegese irrte mit der Meinung, ins Evangelium Jesu gehöre der Sohn, gehöre Christus nicht hinein: Er ist immerfort die Mitte darin. (Fs)
143c Aber nun müssen wir noch auf einen weiteren Aspekt der Frage achten, der uns beim 4. Gebot deutlicher begegnen wird: Was Rabbi Neusner an Jesu Botschaft über den Sabbat stört, ist nicht nur die Zentralität Jesu selbst; er stellt sie klar heraus und streitet doch letztlich nicht darüber, sondern über das, was die Folge davon für das konkrete Leben Israels ist: Der Sabbat verliert seine große soziale Funktion. Er gehört zu den wesentlichen Elementen, die Israel als Israel zusammenhalten. Die Zentrierung um Jesus bricht dieses heilige Gefüge auf und gefährdet ein wesentliches Element im Zusammenhalt des Volkes. (Fs) (notabene)
143d Mit dem Anspruch Jesu selbst ist es verbunden, dass die Jüngergemeinschaft Jesu das neue Israel ist. Muss das nicht den beunruhigen, dem das "ewige Israel" am Herzen liegt? Mit der Frage nach dem Anspruch Jesu, selbst die Tora und der Tempel in Person zu sein, ist auch das Thema Israels - die Frage der lebendigen Gemeinschaft des Volkes - verbunden, in dem sich Gottes Wort verwirklicht. Neusner hat im größeren Teil seines Buches gerade diesen zweiten Aspekt unterstrichen, wie wir im Folgenden sehen werden. (Fs)
144a Nun stellt sich hier auch schon für den Christen die Frage: War es gut, die große soziale Funktion des Sabbat zu gefährden, Israels heilige Ordnung aufzubrechen zugunsten einer Jüngergemeinschaft, die sozusagen allein von der Gestalt Jesu her definiert wird? Diese Frage könnte und kann sich erst in der sich entfaltenden Jüngergemeinschaft - der Kirche - klären. Dieser Entfaltung können wir hier nicht nachgehen. Die Auferstehung Jesu "am ersten Tag der Woche" brachte es mit sich, dass nun für die Christen dieser "erste Tag" - der Schöpfungsbeginn -zum "Herrentag" wurde, auf den dann - in der Tischgemeinschaft mit Jesus - von selbst die wesentlichen Elemente des alttestamentlichen Sabbat übergingen. (Fs)
144b Dass die Kirche dabei auch die soziale Funktion des Sabbat - immer ausgerichtet auf den "Menschensohn" - neu übernommen hat, zeigte sich deutlich, als Konstantin bei seiner christlich inspirierten Rechtsreform mit diesem Tag auch Freiheiten für die Sklaven verband und also den Herrentag als einen Tag der Freiheit und der Ruhe in das christlich geformte Rechtssystem einführte. Ich finde es äußerst bedenklich, dass moderne Liturgiker diese soziale Funktion des Sonntags, die in der Kontinuität mit der Tora Israels steht, als konstantinische Verirrung wieder beiseiteschieben wollen. Aber da steht natürlich das ganze Problem des Verhältnisses von Glaube und Sozialordnung, von Glaube und Politik auf. Darauf müssen wir im nächsten Abschnitt unser Augenmerk richten. (Fs)
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