Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Jesus von Nazareth 1 Titel: Jesus von Nazareth Stichwort: Jesus; die Tora des Messia; "Gesetz Christi" - die Freiheit; Rabbi Neusner
Kurzinhalt: Das "Gesetz Christi" ist die Freiheit - das ist die Paradoxie der Botschaft des Galater-Briefs. Diese Freiheit hat also Inhalte;
Textausschnitt: 2. DIE TORA DES MESSIAS
Es ist gesagt worden - Ich aber sage euch
131a Vom Messias wurde erwartet, dass er eine erneuerte Tora - seine Tora - bringen werde. Möglicherweise spielt Paulus im Galater-Brief darauf an, wenn er vom "Gesetz Christi" spricht (6,2): Seine große und leidenschaftliche Verteidigung der Freiheit vom Gesetz gipfelt im 5. Kapitel in den Sätzen: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von Neuem das Joch der Knechtschaft auflegen" (5,1f). Aber wenn er dann in 5,13 noch einmal den Satz wiederholt "Ihr seid zur Freiheit berufen", fügt er hinzu: "Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe!" Und nun entfaltet er, was Freiheit ist - nämlich Freiheit zum Guten, Freiheit, die sich vom Geist Gottes führen lässt; und eben dieses Sich-führen-Lassen durch den Geist Gottes ist die Weise des Freiwerdens vom Gesetz. Unmittelbar darauf gibt uns Paulus an, worin die Freiheit des Geistes inhaltlich besteht und was mit ihr unvereinbar ist. (Fs)
131b Das "Gesetz Christi" ist die Freiheit - das ist die Paradoxie der Botschaft des Galater-Briefs. Diese Freiheit hat also Inhalte, hat eine Richtung und ist daher Widerspruch zu dem, was den Menschen nur scheinbar befreit, in Wahrheit aber zum Sklaven macht. Die "Tora des Messias" ist ganz neu, anders - aber eben so "erfüllt" sie die Tora des Mose. (Fs)
132a Der größte Teil der Bergpredigt (Mt 5,17-7,27) ist dem gleichen Thema gewidmet: Nach der programmatischen Einführung durch die Seligpreisungen bietet sie uns sozusagen die Tora des Messias dar. Auch hinsichtlich der Adressaten und der bestehenden Absichten des Textes gibt es eine Analogie zum Galater-Brief: Paulus schreibt da an Judenchristen, die unsicher geworden sind, ob nicht doch die ganze Tora weiter so eingehalten werden müsse, wie es bisher verstanden worden war. (Fs)
132b Diese Unsicherheit betraf vor allem die Beschneidung, die Speisegebote, den ganzen Bereich der Reinheitsvorschriften und die Weise, den Sabbat zu halten. Paulus sieht in diesen Vorstellungen einen Rückfall hinter die Neuheit der messianischen Wende, bei dem das Wesentliche dieser Wende verlorengeht - die Universalisierung des Gottesvolkes, kraft deren nun Israel die Weite der Völker der Welt umspannen kann, der Gott Israels wirklich - den Verheißungen gemäß - zu den Völkern getragen worden ist, sich als ihrer aller Gott, als der eine Gott zeigt. (Fs)
132c Nicht mehr das "Fleisch" ist entscheidend - die leibliche Abkunft von Abraham -, sondern der "Geist": die Zugehörigkeit zum Glaubens- und Lebenserbe Israels durch die Gemeinschaft mit Jesus Christus, der das Gesetz "vergeistigt" und so zum Lebensweg aller gemacht hat. In der Bergpredigt spricht Jesus zu seinem Volk, zu Israel, als dem Erstträger der Verheißung. Aber indem er ihm die neue Tora übergibt, öffnet er es, so dass nun aus Israel und den Völkern eine neue große Gottesfamilie entstehen kann. (Fs)
132d Matthäus hat sein Evangelium für Judenchristen und darüber hinaus in die jüdische Welt hineingeschrieben, um diesen großen Impuls, der von Jesus gekommen war, neu zur Geltung zu bringen. Durch sein Evangelium spricht Jesus neu und immerfort zu Israel. Er spricht im historischen Augenblick des Matthäus ganz besonders zu Judenchristen, die dadurch Neuheit und Kontinuität der bei Abraham beginnenden Gottesgeschichte mit der Menschheit und ihrer durch Jesus vollzogenen Wende erkennen; so sollen sie den Weg des Lebens finden. (Fs)
133a Aber wie sieht nun diese Tora des Messias aus? Da steht gleich zu Beginn sozusagen als Überschrift und Auslegungsschlüssel ein uns immer wieder überraschendes Wort, das die Treue Gottes zu sich selbst und die Treue Jesu zum Glauben Israels unmissverständlich klar hinstellt: "Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich" (Mt 5,17-19). (Fs)
133b Es geht nicht um Aufhebung, sondern um Erfüllung, und diese Erfüllung verlangt ein Mehr, nicht ein Weniger an Gerechtigkeit, wie Jesus gleich anschließend sagt: "Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen" (5,20). Geht es also nur um einen verschärften Rigorismus des Gesetzesgehorsams? Oder was sonst ist diese größere Gerechtigkeit?
133c Wenn so am Anfang der "Relecture" - der neuen Lesung wesentlicher Teile der Tora - die Betonung der äußersten Treue, der ungebrochenen Kontinuität steht, fällt beim weiteren Zuhören auf, dass Jesus das Verhältnis der Mose-Tora zur Tora des Messias in Antithesen darstellt: Den Alten ist gesagt worden - ich aber sage euch. Das Ich Jesu tritt mit einem Rang hervor, den sich kein Gesetzeslehrer erlauben darf. Die Menge spürt das - Matthäus sagt uns ausdrücklich, dass das Volk "erschrak" ob seiner Weise zu lehren. Er lehrt, nicht wie die Rabbinen es tun, sondern als einer, der "Vollmacht" hat (7,29; vgl. Mk 1,22; Lk 4,32). Damit ist natürlich nicht eine rhetorische Qualität von Jesu Reden gemeint, sondern der offenkundige Anspruch, selbst auf der Höhe des Gesetzgebers - auf der Höhe Gottes - zu stehen. Das "Erschrecken" (die Einheitsübersetzung mildert das leider in "Betroffenheit" ab) ist genau das Erschrecken darüber, dass ein Mensch mit der Hoheit Gottes selbst zu sprechen wagt. Entweder vergreift er sich damit an der Majestät Gottes, was furchtbar wäre - oder aber, was kaum fassbar scheint, er steht wirklich auf der Höhe Gottes. (Fs)
134a Wie sollen wir nun diese Tora des Messias verstehen? Welchen Weg zeigt sie uns? Was sagt sie uns über Jesus, über Israel, über die Kirche, über uns selbst und zu uns selbst? Auf der Suche nach Antwort ist mir das schon erwähnte Buch des jüdischen Gelehrten Jacob Neusner zu einer großen Hilfe geworden: A Rabbi talks with Jesus (Verlag Doubleday, New York 1993; deutsch: Ein Rabbi spricht mit Jesus. Ein jüdisch-christlicher Dialog, Claudius Verlag, München 1997). (Fs)
134b Neusner, gläubiger Jude und Rabbi, ist in Freundschaft mit katholischen und evangelischen Christen aufgewachsen, lehrt mit christlichen Theologen zusammen an der Universität und steht dem Glauben seiner christlichen Kollegen mit tiefem Respekt gegenüber, bleibt aber doch zutiefst von der Gültigkeit der jüdischen Auslegung der Heiligen Schriften überzeugt. Seine Ehrfurcht vor dem christlichen Glauben und seine Treue zum Judentum haben ihn veranlasst, das Gespräch mit Jesus zu suchen. (Fs)
135a Er setzt sich in diesem Buch unter die Schar der Jünger auf dem "Berg" in Galiläa. Er hört Jesus zu, vergleicht sein Wort mit den Worten des Alten Testaments und mit den rabbinischen Überlieferungen, wie sie in Mischna und Talmud niedergelegt sind: Er sieht in diesen Werken mündliche Überlieferung von den Anfängen her, die ihm den Deuteschlüssel zur Tora geben. Er hört zu, er vergleicht, und er redet mit Jesus selbst. Er ist angerührt von der Größe und von der Reinheit des Gesagten und doch zugleich beunruhigt über jene letzte Unvereinbarkeit, die er im Kern der Bergpredigt findet. Er wandert dann mit Jesus weiter auf dem Weg nach Jerusalem, hört, wie in den Worten Jesu dieselbe Thematik wiederkehrt und weiter entfaltet wird. Immerfort versucht er zu verstehen, immerfort bewegt ihn das Große, und wieder und wieder redet er mit Jesus. Aber am Ende entscheidet er sich, Jesus nicht zu folgen. Er bleibt - wie er sich ausdrückt - beim "ewigen Israel" (a. a. O., S. 162). (Fs)
135b Der Dialog des Rabbi mit Jesus zeigt, wie der Glaube an das Wort Gottes in den Heiligen Schriften über die Zeiten hin Gleichzeitigkeit schafft: Von der Schrift her kann der Rabbi ins Heute Jesu eintreten, und von ihr her kommt Jesus in unser Heute. Dieser Dialog geschieht in großer Redlichkeit. Er lässt die ganze Härte der Unterschiede aufscheinen, aber er geschieht auch in großer Liebe: Der Rabbi nimmt das Anderssein der Botschaft Jesu an und verabschiedet sich in einer Trennung, die keinen Hass kennt, sondern in der Strenge der Wahrheit immer auch die versöhnende Kraft der Liebe gegenwärtig hält. (Fs)
136a Versuchen wir, das Wesentliche dieses Gesprächs aufzunehmen, um Jesus zu erkennen und um unsere jüdischen Brüder besser zu verstehen. Der Zentralpunkt wird - wie mir scheint - sehr schön sichtbar in einer der beeindruckendsten Szenen, die Neusner in seinem Buch entwirft. Neusner war - in seinem inneren Dialog - Jesus den ganzen Tag über gefolgt und zieht sich nun zu Gebet und Torastudium mit den Juden einer kleinen Stadt zurück, um das Gehörte mit dem dortigen Rabbi - immer im Gedanken der Gleichzeitigkeit über Jahrtausende hin - zu besprechen. Der Rabbi zitiert aus dem Babylonischen Talmud: ,"Rabbi Simlaj trug vor: Sechshundertdreizehn Vorschriften sind Mose überliefert worden; dreihundert-fünfundsechzig (Verbote) entsprechen den Tagen des Sonnenjahres, und zweihundertachtundvierzig (Gebote) entsprechen den Gliedern des Menschen. Hierauf kam David und brachte sie auf elf ... Hierauf kam Jesaja und brachte sie auf sechs ... Hierauf kam Jesaja abermals und brachte sie auf zwei ... Vielmehr, hierauf kam Habakuk und brachte sie auf eines, denn es heißt: Der Fromme wird durch seinen Glauben leben (Habakuk 2,4)"' (ebd., S. n3f). (Fs) (notabene)
136b In Neusners Buch folgt darauf der folgende Dialog: '"Und dies', fragt der Meister, 'hatte Jesus, der Gelehrte, zu sagen?' Ich: 'Nicht genau, aber ungefähr.' Er: 'Was hat er weggelassen?' Ich: 'Nichts.' Er: 'Was hat er dann hinzugefügt?' Ich: 'Sich selbst.'" (S. 114). Dies ist der zentrale Punkt des Erschreckens vor Jesu Botschaft für den gläubigen Juden Neusner, und dies ist der zentrale Grund, warum er Jesus nicht folgen will, sondern beim "ewigen Israel" bleibt: die Zentralität des Ich Jesu in seiner Botschaft, die allem eine neue Richtung gibt. Neusner zitiert an dieser Stelle als Beleg für diese "Hinzufügung" das Wort Jesu an den reichen jungen Mann: "Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz, komm und folge mir" (vgl. Mt 19,20; S. 114). Die Vollkommenheit, das von der Tora verlangte Heiligsein, wie Gott heilig ist (Lev 19,2; 11,44), besteht jetzt darin, Jesus nachzufolgen. (Fs)
137a Neusner spricht diese geheimnisvolle Gleichsetzung zwischen Jesus und Gott, die in den Reden der Bergpredigt vollzogen ist, nur mit großer Scheu und Ehrfurcht an, aber seine Analysen zeigen doch, dass dies der Punkt ist, durch den sich Jesu Botschaft grundlegend vom Glauben des "ewigen Israel" unterscheidet. Er tut dies von drei grundlegenden Geboten her, deren Behandlung durch Jesus er untersucht: Vom 4. Gebot aus - dem Gebot der Elternliebe - und vom 3. Gebot, dem Gebot der Sabbatheiligung her, und schließlich vom Heiligkeitsgebot aus, das wir eben berührt haben. Er kommt zu dem ihn beunruhigenden Ergebnis, dass Jesus ihn offenbar anleiten will, diesen drei grundlegenden Geboten Gottes nicht zu folgen und sich stattdessen ihm anzuschließen. (Fs)
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