Autor: Brandmüller, Walter Buch: Licht und Schatten Titel: Licht und Schatten Stichwort: Martin Luther; "Reformatio" in der mittelalterlichen Kirche; abendländisches Schisma; Reformkonzilien; Katherina von Siena; Reform; religiös-kirchlicher Aufbruch (Menschenrechte der Eingeborenen)
Kurzinhalt: Die große Reform freilich blieb aus: Alle redeten von Reform - keiner aber wollte sie bei sich zu Haus haben, wie ein Konzilsprediger einmal sagte. "Reform" war geradezu zum Schlagwort entartet.
Textausschnitt: "Reformatio" in der mittelalterlichen Kirche
102b Wer immer das Leben der einzelnen Christen oder der Kirche als Ganzes an den sittlichen Maßstäben des Evangeliums mißt, ist von dem Auseinanderklaffen von Anspruch und Erfüllung betroffen - bei sich selbst und bei den anderen Gliedern der Kirche. Aus deren großer Schar ragen gewiß in allen Jahrhunderten, mehr oder weniger zahlreich und leuchtend, die Heiligen hervor, in deren menschlicher Schwachheit Gottes Kraft in zeichensetzender Weise wirksam geworden und zur Vollendung gelangt ist. Ihrer sind und waren immer zu wenige. (Fs)
103a Diese Erkenntnis hat vom Anfang der Kirchengeschichte an immer wieder den Ruf nach Umkehr, nach Buße, laut werden lassen; er weitete sich mit Blick auf die Gesamtheit der Kirche aus zum Ruf nach Reform. Wie offen sich die mittelalterliche Kirche in jeder Phase für diesen Ruf gezeigt hat, erweist ihre Geschichte. (Fs)
103b Am Anfang steht, nach den Zusammenbrüchen der Völkerwanderung und der Merowingerzeit, die Kirchenreform zur Zeit der Karolinger, es folgten die Reformbewegungen im Mönchtum, ausgehend von Cluny, Gorze und anderen Zentren, und um 1050 die nach Papst Gregor VII. benannte Gregorianische Reform. Keine hundert Jahre später wurde die abendländische Kirche von der Armutsbewegung erfaßt, deren Träger die Lebensform der Apostel - das Ideal eines der Armut und der Wanderpredigt verpflichteten Lebens - aufs neue realisieren wollten. Franz von Assisi und Dominikus heißen die bald herausragenden Gestalten, die es zudem vermochten, den vielerorts über die Ufer der kirchlichen Bindung hinaustretenden Strom der religiösen Kräfte großenteils in das Bett kirchlicher Integration zurückzuleiten. Ihre Ausstrahlung erfaßte die gesamte abendländische Kirche, und es dürfte um das Jahre 1300 nur wenige europäische Städte gegeben haben, in denen nicht mindestens ein Bettelordenskloster zu finden war. Von den Kanzeln dieser Klosterkirchen erhob sich immer wieder aufs neue der Ruf zu Buße und Christusnachfolge, mitunter in sehr drastischlebensnaher Art und Weise. Für Jahrhunderte wurde die Kanzel zu einer Domäne der Bettelorden. Dabei scheuten die Prediger nicht vor heftiger Kritik an Klerus und Bischöfen zurück, wo deren üppiges, ja sogar luxuriöses Leben Ärgernis erregte. Es gibt interessante Untersuchungen über die Kirchen- und Romkritik im Mittelalter, die uns zeigen, wie schmerzlich oftmals der Abstand von Ideal und Wirklichkeit des christlichen-kirchlichen Lebens empfunden wurde. (Fs)
Ganz besonders scharfe Töne waren zur Zeit des Großen Abendländischen Schismas zu hören, nachdem im Gefolge der Wahl Papst Urbans VI. im Jahre 1378 wenige Monate später ein Gegenpapst, Clemens VII., gewählt worden war. Die Spaltung im obersten Hirtenamt, die sich nach dem Konzil von Pisa 1409 in eine Dreiteilung ausweitete, da das Konzil die beiden konkurrierenden Papstprätendenten zu Rom und Avignon erfolglos abgesetzt hatte, hat die abendländische Christenheit in Verwirrung gestürzt und eine Fülle von Unordnung in das Leben der Kirche gebracht. Einflüsse weltlicher Herrschaft, finanzielle Interessen nahmen überhand, und die diesseitsgerichtete, auf Gewinn, Genuß und Geltung bedachte Lebensauffassung der Renaissance hinterließ tiefe Spuren - nicht zuletzt sichtbar an der römischen Kurie und manchem Papst des 15. Jahrhunderts. Ihre glänzenden staatsmännischen und kulturellen Leistungen können uns nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß sie in einigen Fällen ihrer Berufung zum obersten Hirtenamt der Kirche wahrlich nicht entsprochen haben. Ob sie den Zeitgenossen indes ebenso großes Ärgernis wie uns gegeben haben, ist sehr fraglich: Sie entsprachen nur allzusehr in Lebensauffassungen und Lebensstil dem allgemeinen Bewußtsein der Menschen ihrer Zeit. (Fs)
104a Durch die negativen Auswirkungen des Schismas und der Renaissance fühlten sich jedoch gerade die Besten herausgefordert. Sie zögerten nicht, Hand anzulegen. Das 15. Jahrhundert ist nicht umsonst das Jahrhundert der großen Bußprediger, zu deren Füßen die Menschen zu Tausenden dem Wort Gottes lauschten, auch wenn die Predigten drei bis fünf Stunden dauerten. Vicente Ferrer, Bernhardin von Siena, Johannes von Capistrano - das waren wohl die drei größten Namen, die hier zu nennen sind. (Fs)
Das 15. Jahrhundert ist aber auch das Jahrhundert der Reformkonzilien: Pisa 1409, Konstanz 1414-1418, Siena 1423/24 und Basel-Ferrara-Florenz 1431-1439. Das waren Versuche, mehr oder weniger von Erfolg gekrönt, das kirchliche Leben neu zu ordnen, den Anforderungen einer gewandelten Gesellschaftsordnung kirchlicherseits zu entsprechen. Die große Reform freilich blieb aus: Alle redeten von Reform - keiner aber wollte sie bei sich zu Haus haben, wie ein Konzilsprediger einmal sagte. "Reform" war geradezu zum Schlagwort entartet. (Fs)
104b Wer hingegen den Ruf nach Reform mit Ernst aufnahm, waren die Orden. Benediktiner, Franziskaner, Dominikaner, Augustiner, Karmeliter und ihre weiblichen Zweige erlebten Bewegungen in ihren Reihen, deren Ziel die Absage an alle im Lauf der Zeit eingegangenen Kompromisse und die Rückkehr zu den Idealen der Ordensgründer war, wobei man freilich da und dort allzu großes Gewicht auf Äußerlichkeiten der Regelbeobachtung gelegt hat Martin Luther selbst hat einer solchen Gemeinschaft angehört. (Fs)
105a Dieser reformatorische Elan war nicht selten Triebkraft zu einer Kirchenkritik, deren Ernst und Pathos an die alttestamentlichen Propheten erinnert. Da fielen harte Worte, da wurden prophetische Drohungen ausgesprochen. Ein klassisches Beispiel: die Färberstochter Caterina Benincasa aus Siena. Aus ihrer mystischen Verbundenheit mit dem gekreuzigten Christus kam ihre Botschaft an Päpste, Kardinale, Priester, Gläubige, Staatsmänner und Feldherren. Dem Papst Gregor XI., der mit Florenz, Siena und anderen Städten im Kriege lag, schrieb sie etwa 1377: "Gottes Wille ist, daß Sie mit Toscana Frieden schließen. Sie mögen die rebellischen Söhne strafen, aber nicht mit Krieg ... Sie tragen ja die Schlüssel des Himmels in der Hand. Wem Sie öffnen, dem ist geöffnet, und wem Sie schließen, dem ist geschlossen. Wenn Sie das Gesagte also nicht tun, wird Sie der Zorn Gottes treffen." Unerbittlich geißelte sie Luxus und sittliche Verfehlungen bei Kardinalen, Bischöfen und Priestern, und als sie in Avignon an der päpstlichen Kurie erschien, um Gregor XI. zur Rückkehr nach Rom aufzufordern, da traten die von ihr so hart Getadelten respektvoll zur Seite. Pius II. hat sie ohne Zögern im Jahre 1461 heiliggesprochen. - Nicht minder scharfe Töne schlugen die Prediger auf dem Konstanzer Konzil an. Sie malten dann und wann in so düsteren Farben, daß der Historiker begründetermaßen zögert, ihre Ausführungen als ein getreues Spiegelbild ihrer Zeit anzusehen. (Fs)
Was ist Reform?
105b Das Gemeinsame an all diesen zeitlich, geographisch und auch gesellschaftlich breit gestreuten Reformansätzen ist, daß sie in der Hauptsache praktische, kirchenrechtliche und noch mehr religiös-sittliche Ziele verfolgten. Da ging es um die gerechte Verwaltung kirchlichen Vermögens, um die gerechte und seelsorglich richtige Vergabe kirchlicher Amter, um die Hebung von Frömmigkeit und Gottesfurcht bei Klerus und Laien, um strenge Einhaltung der klösterlichen Gelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam, um die gewissenhafte Feier des Gottesdienstes, die Verwaltung der Sakramente und des Predigtamtes und immer wieder um die Reinerhaltung des Glaubens von individualistisch-spiritualistischen Verirrungen, wie sie in der spätmittelalterlichen Gesellschaft sichtbar wurden. (Fs)
106a Jeder dieser Reformbewegungen erschien die konkret existierende Kirche als der Besserung, der Reform, bedürftig, aber auch der Reform fähig. Noch am Vorabend des Auftretens Luthers hat das 5. Laterankonzil eine Reihe von positiven Reformbeschlüssen gefaßt - der Reformgedanke stand im Mittelpunkt des Konzilgeschehens. Zur gleichen Zeit waren Reformer wie etwa die Mitglieder des oberrheinischen Humanistenkreises, an ihrer Spitze etwa Jakob Wimpfeling, am Werk. Ganz besonders eindrucksvoll ist jedoch, was in Italien und vor allem in Spanien an religiös-kirchlichem Aufbruch geschah. Zeichen für die religiöse Vitalität der Kirche in Spanien war es etwa, daß die hier betriebene Theologie die Frage nach der sittlichen Erlaubtheit der Kolonialisierung Lateinamerikas nicht nur radikal stellte, sondern auch nach einer grundsätzlichen theologischen Reflexion über die Menschenrechte der Eingeborenen das politische Wollen der Könige zu bestimmen vermochte, wenn es auch nur bruchstückhaft gelang, diese Grundsätze in die Praxis zu überführen. (Fs)
106b Kein Zweifel, daß die Mehrzahl der Zeitgenossen Luthers in ihm zunächst einen der Reformer sah, wie sie schon oftmals aufgetreten waren und Gutes gewirkt hatten. Mancher mochte an einen neuen Savonarola denken, als er von dem Wittenberger Augustiner hörte. (Fs)
106c Es ist darum plausibel, wenn davor gewarnt wird, zu glauben, es habe damals alles nach Reformation gerufen und Luthers Auftreten sei nur der Funke gewesen, der das Pulverfaß zur Explosion gebracht habe. Vielmehr sei das deutsche Volk aufs Ganze gesehen kirchenfromm gewesen und habe seine geistige Unruhe zur Kirche getragen. "Die kirchliche Volksfrömmigkeit, und zwar gerade die Hingabe an die Kernstücke des katholischen Kirchentums, hatte in Deutschland im späteren 15. Jahrhundert ein Höchstmaß an Intensität erreicht" (B. Moeller). Das ist zweifellos richtig. Auch wenn zugleich ein Verlangen nach Reform vorhanden war, so läßt sich doch sagen, daß an Reformation im Sinne Luthers kaum jemand dachte. Man wollte die Kirche erneuern, nicht umstürzen. Ein Zweifel, daß die konkret existierende Kirche reformbedürftig war, war ebensowenig vorhanden, wie daran, daß sie dennoch die Kirche Jesu Christi war und bleiben würde. Wiederum sei Katharina von Siena angeführt. Gerade weil sie die Heilsbedeutung der Kirche tief erfaßte, konnte sie beten: "Ewiger Gott, nimm das Opfer meines Lebens für den mystischen Leib der heiligen Kirche! Ich vermag nichts anderes zu geben, als was Du mir gegeben hast!" Sie war zutiefst davon überzeugt: "Wir können unser Heil nicht anders erlangen als im mystischen Leib der Kirche, dessen Haupt Christus ist und dessen Glieder wir sind. Wer dem Christus auf Erden, der den Christus im Himmel vertritt, nicht gehorcht, der nimmt am Blut des Gottessohnes nicht teil. Denn Gott hat es so eingerichtet, daß durch dessen Hände Christi Blut und alle Sakramente der Kirche zu uns kommen. Es gibt keinen anderen Weg und keine andere Pforte für uns." An dieser Überzeugung änderte ihr Tadel, ihre Drohung an den Papst nicht das Geringste. Es ist die genuin katholische Überzeugung und Haltung, die sie hier formuliert: Mag auch das konkrete Verhalten von Hirt und Herde falsch, ja Sünde sein - niemals kann menschliches Versagen Christus hindern, sein Wort und seine Gnade in dieser seiner einen Kirche unversehrt und wirksam zu erhalten. Darum konnte Katharina, ohne in Widerspruch mit sich selbst zu geraten, Papst Urban VI. vorwerfen, "daß er auf eine maßlose Art und durch die Furcht, die er den Untergebenen einflößt, die heilige Kirche auskehrt", zugleich aber gerade diesem Papst, in dem sie den rechtmäßigen Hirten erkannte, treu zu bleiben. Den Kardinalen, die sie der Schuld am Ausbruch der Kirchenspaltung anklagte, schrieb sie: "Das Gift der Selbstsucht... hat aus Euch Strohhalme gemacht, Ihr Säulen! Nicht duftende Blumen seid Ihr, sondern Gestank, der die ganze Welt verpestet. Nicht Leuchten, um den Glauben zu verbreiten. Ihr habt Euer Licht unter den Scheffel des Stolzes gestellt. Nicht Mehrer des Glaubens seid Ihr, sondern als seine schändlichen Feinde verbreitet Ihr Finsternis in Euch und anderen. Engel auf Erden solltet Ihr sein, um uns vor dem höllischen Teufel zu retten und die verirrten Schafe zur heiligen Kirche zurückzuführen. Nun seid Ihr selber Teufel geworden - tausendmal habt Ihr den Tod verdient!" Und dennoch vermochten sie zu sagen: "Es ist Gottes ausdrücklicher Wille: Selbst wenn die Hirten und der irdische Christus - damit meint sie den Papst - fleischgewordene Teufel wären statt eines gütigen Vaters, wir müßten uns ihm unterwerfen ... um Gottes willen."
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