Datenbank/Lektüre


Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Inquisition: Voraussetzungen, Ketzerdekrete von Verona; Kirche - Imperium: Spätantike - Mittelalter (Ellipse); Christianitas

Kurzinhalt: Mehr noch: Griff ein Häretiker einen Lehrsatz, ein Dogma der Kirche an, so unterwühlte er damit zugleich die Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung, ...

Textausschnitt: 76a Auch ein für uns so kritikwürdiges Phänomen wie die Inquisition kann man nur ergründen, wenn man sie im Rahmen des historischen Kontextes betrachtet und das Gestern nicht mit den Maßstäben des Heute mißt. Dazu gehört, sich ein Bild von der Einheit des mittelalterlichen Weltbildes zu verschaffen, in dem der Ausschluß aus der Kirche zugleich den Ausschluß aus jeder menschlichen Gesellschaft bedeutete. Das wiederum hieß: Griff jemand ein Dogma an, so attackierte er zugleich die Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung und galt von daher als gemeingefährlich. Nur vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, daß der Staat, und nicht die Kirche bei der Inquisition die Initiative ergriff und weite Kreise der Bevölkerung - übrigens einschließlich Luther und Calvin - sie für rechtens erachteten. (Fs)

Voraussetzungen

76b Eine erste Frage stellt sich im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt des Entstehens der Inquisition - nämlich erst nach einer jahrhundertelang geübten, im Vergleich milden Verfahrensweise: Wie konnte die Ausübung von Zwang zum Mittel der Ketzerbekämpfung werden? Die historische Antwort erfordert eine Analyse der Situation im christlichen Altertum:

In der Spätantike bildeten Kirche und Imperium zwei deutlich unterschiedene, nicht auswechselbare Größen, so eng sich ihr gegenseitiges Verhältnis in der nachkonstantinischen Zeit auch gestaltete. Selbst als das Imperium Romanum christlich geworden war, blieb es ein autonomes politisches Gebilde, das dem Christentum weder seinen Ursprung noch seinen Fortbestand verdankte. Erst im Mittelalter wurde die Kaiser- oder Königskrönung als christlicher liturgischer Ritus eingeführt. Die Imperatoren der Spätantike leiteten, anders als die Kaiser des Mittelalters, ihre Macht und Würde weder vom Papst noch von der Kirche ab. So dachte Anfang des 5. Jahrhunderts Augustinus, als er in "De Civitate Dei" zum Verhältnis Christentum - Imperium Romanum Stellung nahm, so dachte Ende des 5. Jahrhunderts Papst Gelasius, wenn er schrieb: "Es gibt zwei Mächte, die diese Welt regieren: die geheiligte Autorität der Bischöfe und die königliche Macht."

77a Mochten beide Mächte auch in Harmonie miteinander stehen, ihre Eigenständigkeit blieb gewahrt, da sie auf verschiedenen Fundamenten ruhten. So war es möglich, daß auch noch lange nach Konstantin Heiden, Juden und Christen als gleichberechtigte Bürger in dem einen römischen Reich zusammenlebten. In ähnlicher Weise konnte auch der aus der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossene Häretiker im Imperium weiterhin eine Basis für seine bürgerlich-soziale Existenz finden, sofern er sich dessen Gesetzen fügte. (Fs) (notabene)

77b Dies änderte sich von Grund auf, als das alte Imperium unter dem Ansturm der Völkerwanderung zerbrach. Das Einströmen der Barbarenhorden in das Zentrum der antiken Welt leitete nun einen höchst vielschichtigen und differenzierten Verschmelzungsprozeß ein, als dessen endliches Resultat eine Synthese von Antike und Germanentum hervorging, deren formendes Prinzip das Evangelium Christi war. Diese neue abendländische Kultur, die in ihrer den Westen umspannenden Kraft erstmals im Imperium Karls des Großen eindrucksvoll in Erscheinung trat, war ihrem Wesen nach eine christliche, kirchliche Kultur. Die Kirche war es ja, die in den vorausgegangenen stürmischen Zeiten des Umbruchs die Schätze antiker Bildung bewahrt und sie den neuen Völkern aus dem Norden und Osten vermittelt hatte. Karl der Große hatte als seine wichtigsten Ratgeber Männer der Kirche, seine Gesetze - die berühmten Kapitularien - lesen sich oftmals wie Konzilskanones oder Ermahnungen eines Predigers. Dieses Ineinander von Reich und Kirche fand seinen sinnfälligen Ausdruck in den karolingischen Reichssynoden, wo geistliche und weltliche Große Geistliches und Weltliches gemeinsam berieten und beschlossen. Vor allem aber wurde dieses Neue sichtbar, als Leo III. dem Frankenkönig Karl am Weihnachtstag des Jahres 800 die Kaiserkrone aufsetzte und so die vielbesprochene Renovatio Imperii, die Erneuerung des Reiches, vollzog. Das neue Reich gründete sich also auf geistliche Vollmacht und Würde. (Fs)

78a Die Welt war nicht mehr in zwei getrennte Bereiche von Reich und Kirche geteilt, Königsmacht und geistliche Gewalt verhielten sich nunmehr wie die einander zugeordneten Brennpunkte einer Ellipse. Es war eine einzige menschliche Gesellschaft entstanden, die man Kirche, seit dem 9. Jahrhundert auch "Christianitas" (= Christenheit) nannte. Imperium und Sacerdotium erscheinen nun gemeinsam und einander zugeordnet als Strukturprinzipien dieser einen Christenheit. Dieser Begriff bleibt - vorerst unberührt durch die Entstehung der Nationalstaaten - bis ins Spätmittelalter in Gebrauch. (Fs)
Die wesentliche, vom Begriff schon geforderte Grundlage dieser Christenheit war aber die Einheit des Glaubens, der Sakramente und der Leitung. Stellte sich nun ein einzelner oder gar eine Gruppe von Christen außerhalb dieser Einheit, indem sie eine Glaubenswahrheit leugneten, so begaben sie sich zugleich der Basis ihrer bürgerlichen Existenz, denn der Ausschluß aus der Kirche bedeutete den Ausschluß aus der menschlichen, bürgerlichen Gesellschaft. Die Bannung Heinrichs IV. und sein Gang nach Canossa liefern ein gutes Beispiel für diese Situation. (Fs)

78b Mehr noch: Griff ein Häretiker einen Lehrsatz, ein Dogma der Kirche an, so unterwühlte er damit zugleich die Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung, die ja auf den christlichen Glauben gegründet war. Er wurde damit zum gemeingefährlichen Verbrecher. Es ist jedoch interessant zu beobachten, daß dies erst ins reflexe Bewußtsein trat, als nicht mehr nur wissenschaftlich arbeitende Theologen infolge abweichender Lehrmeinungen zu Häretikern wurden, sondern der erst geheime, dann aber offenkundige Abfall von der Lehre der Kirche ganze Gruppen von Gläubigen erfaßte. Der Wandel im Vorgehen gegen die Häresie - vom kirchlichen theologischen Synodalprozeß zur Verfolgung und Tötung des Häretikers durch den "weltlichen Arm" - wurde durch den Wandel der Häresie selbst hervorgerufen, die vom privaten, theologisch-religiösen zum sozialen, politischen Phänomen wurde. (Fs)

Für die Bürger der von Häresie befallenen Städte war die Entdeckung, daß in ihrer Mitte bisher unerkannt Menschen gelebt hatten, die vom Glauben der Kirche innerlich längst abgefallen waren und ihren eigenen religiösen Lehren anhingen, wie die Entdeckung, daß sich innerhalb ihrer Mauern ein Haus als von der Pest infiziert erwies. Es war wie die Enttarnung einer zum Losschlagen bereiten Verschwörergruppe. Zur Verfolgung der Ketzer führte - mehr als Glaubensintoleranz oder Haß - die Angst und Bestürzung einer Gesellschaft, die instinktiv ihre geistigen Grundlagen bedroht fühlte. Denn "die Ketzer des Mittelalters sind die Anarchisten ihrer Zeit gewesen" (E. Michael). (Fs) (notabene)

79a Die Bemerkungen des Kirchengeschichtlers Döllinger im Jahre 1861 über die Haupthäresien jener Zeit - Katharer, Albigenser und Waldenser - bekräftigen dieses Urteil: "Jene gnostischen Sekten, die Katharer und Albigenser, welche eigentlich die harte und unerbittliche Gesetzgebung des Mittelalters gegen die Häresie hervorriefen und in blutigen Kriegen bekämpft werden mußten, griffen Ehe, Familie und Eigentum an. Hätten sie gesiegt, ein allgemeiner Umsturz, ein Zurücksinken in Barbarei und heidnische Zuchtlosigkeit wäre die Folge gewesen. Daß auch für die Waldenser mit ihren Grundsätzen über Eid und Strafrecht der Staatsgewalt keine Stätte in der damaligen europäischen Welt war, weiß jeder Kenner der Geschichte."

Es kann kein Zweifel sein: Die Katharer waren zu ihrer Zeit Revolutionäre, Anarchisten, Nihilisten, Kriminelle, die als solche den Bestand der Gesellschaftsordnung gefährdeten. Christen und Katharer hatten nämlich ein sehr verschiedenes Verhältnis zur Welt. Wer die Welt als eine ihm gestellte Aufgabe erkennt, wird sie gemeinsam mit anderen zu bewältigen suchen. Wer hingegen die Welt als vom Bösen geschaffen mit Mißtrauen betrachtet, ja verdammt, dem muß konsequenterweise auch jene die Welt gestaltende Macht des Kaisers als Fortsetzung, Verlängerung der welterschaffenden Macht des Teufels zutiefst suspekt erscheinen. (Fs)

79b Andererseits scheint es erwiesen, daß die innere Distanz der Katharer zur Welt sie nicht zur Revolution der weltlichen Verhältnisse, sondern zur weltverachtenden Passivität ihnen gegenüber führte. Diese passive Resistenz wirkte dennoch zerstörend auf den Staat. Die Grundlagen menschlichen Gemeinschaftslebens gerieten in Gefahr durch die Verweigerung des Eides in der auf den Lehenseid gegründeten Feudalgesellschaft, durch die Verachtung der Ehe und durch den beinahe aufgezwungenen Quasi-Selbstmord durch Nahrungsverweigerung - "Endura" - der Kranken nach Empfang des "Consolamentum". (Fs)

80a Die zivile Gewalt, nicht die kirchliche Autorität war es deshalb auch, die zuerst gegen die Ketzer losschlug. Nicht der zuständige Bischof, sondern König Robert der Fromme von Frankreich ließ 1022 zu Orleans mindestens zwölf gelehrte ketzerische Domherren verbrennen. Mitglieder des mailändischen Stadtadels waren es, die ca. 1028 ihre ketzerischen Standesgenossen von der Burg Monteforte zum Scheiterhaufen schleppten, und die Ketzer von Goslar wurden durch Kaiser Heinrich III. "mit Zustimmung aller" - wie es in der Chronik des Hermann von der Reichenau heißt - zum Strang verurteilt. Ähnliches berichtet Guibert von Nogent in der Chronik "De vita sua" von Ketzern zu Soissons im Jahre 1115. Als ein Konzil zu Beauvais über ihr Schicksal beriet, stürmte das Volk - "die Milde des Klerus befürchtend" - das Gefängnis und verbrannte die Ketzer vor der Stadt. (Fs)

Die Ketzerdekrete von Verona

80b Sowohl die Entwicklung von Katharismus und Waldensertum samt Ablegern als auch das gemeinsame Betroffensein von Kirche und weltlicher Herrschaft durch die Massenhäresie führten zu einer ersten gemeinsamen Reaktion von Kaiser und Papst. (Fs)

Der Konvent von Verona von 1184 mit seinen beiden vom Kaiser bzw. dem Papst erlassenen Ketzerdekreten läßt dies deutlich erkennen. Während der Text des kaiserlichen Dekrets verlorenging, ist der des päpstlichen erhalten. Es spricht zunächst die Exkommunikation über alle aus, die ohne kirchliche Sendung zu predigen wagen, über alle, die über die Sakramente der Kirche anders als die Kirche lehren und über alle, die den Ketzern irgendwelche Unterstützung gewähren. Ferner verfällt der Exkommunikation, wer der Häresie verdächtig ist und sich nicht durch einen Eid zu reinigen bereit ist. Wer die Eidesleistung verweigerte, offenbarte sich so als Katharer. (Fs)

80c Ein der Häresie überführter Kleriker sollte abgesetzt, seiner Pfründe beraubt und dem weltlichen Richter zur Bestrafung ausgeliefert werden, wenn er nicht sofort dem Irrtum abschwört, öffentlichen Widerruf und Genugtuung leistet. Das gleiche galt für einen der Häresie überführten Laien. Rückfallige Kleriker sollten ohne weiteres Verhör dem weltlichen Gericht übergeben werden. (Fs)

81a Als bedeutsamstes Ergebnis dieser Zusammenkunft Lucius' III. mit Barbarossa notiert die Historie die Einführung der bischöflichen Inquisition. Wie die vorherigen Bestimmungen ist auch sie nach den Worten des Papstes auf Rat und Anregung des Kaisers und seiner Fürsten zurückzuführen. (Fs)

In ganz ähnlicher Weise lautete nun die Bestimmung Lucius' III. Jeder Erzbischof oder Bischof soll entweder selbst oder durch entsprechende Beauftragte jene Pfarreien, in denen dem Vernehmen nach Ketzer wohnten, ein- bis zweimal im Jahr besuchen und drei oder mehr ehrenwerte Männer eidlich verpflichten, alle jene anzuzeigen, von denen man weiß, daß sie Ketzer sind. Darauf seien diese zu zitieren. Können sie sich nun nicht in der landesüblichen Form von dem Vorwurf reinigen (Eid, Siebenhändereid, Ordal) oder fallen sie, nachdem sie sich hatten reinigen können, in die Irrlehre zurück, so sollen sie nach dem Urteil des Bischofs bestraft werden. Verweigerung des Eides gilt als Beweis für Häresie, da die Lehre der Katharer den Eid verbot. Die Träger der weltlichen Gewalt müssen eidlich zusichern, daß sie der Kirche beim Werk der Ketzerbekämpfung wirksame Unterstützung angedeihen lassen und die ebenso kaiserlichen wie päpstlichen Bestimmungen durchführen, widrigenfalls sie mit dauerndem Ämterverlust und mit der Exkommunikation zu bestrafen sind, ihr Land hingegen mit dem Interdikt. (Fs)

81b Obgleich schon dieses Gesetz des Papstes auch als ein kaiserliches gelten konnte, erließ Barbarossa noch eine eigene Konstitution, in der er die Reichsacht über die Häretiker verhängte. Als Symbol hierfür zog er den Handschuh ab und warf ihn zu Boden. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt