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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Europa - Zukunft: Beitrag der Kirche; Ideologien (Liberalismus) im Widerspruch zur Kirche

Kurzinhalt: Die Kirche hat nur soviel Einfluß und Macht, wie die Gesellschaft ihr zugesteht ... All diesen Ideologien ist es eigen, keine übersubjektiv, also objektiv gültige Wahrheit, alle Menschen ...

Textausschnitt: Der katholische Beitrag zur Zukunft Europas

51c Von der Bedeutung der Kirche als Faktor, wenn nicht Hauptfaktor für die Integration Europas ist die Rede. Wie zu sehen war, läßt sich für die Vergangenheit vieles dazu anführen. (Fs)

Wesentlich schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob der Kirche eine analoge Funktion auch für die Zukunft zukommen könnte. Im Vergleich zur Vergangenheit haben sich die Voraussetzungen hierfür grundlegend geändert. Die Zäsur wird durch den Siegeszug der Aufklärung und die Französische Revolution markiert. Mit beidem war die jahrtausendlang das geistige und politische Leben Europas tragende Selbstverständlichkeit des christlichen Glaubens zerbrochen. Fortan mußte dieser mit den "modernen" Philosophien, Ideologien, mit Indifferentismus und Agnostizismus konkurrieren. Die Zahl der Gläubigen und ihr soziales, politisches Gewicht bestimmte fortan das Maß des kirchlichen Einflusses auf die europäische Gesellschaft. Dieser bis heute andauernde Umstand ist im übrigen auch in Rechnung zu stellen, wenn "der Kirche" heute Fehlentwicklungen, Verbrechen, Versäumnisse - etwa im Zusammenhang mit totalitären Regimen - zur Last gelegt werden sollen. Die Kirche hat nur soviel Einfluß und Macht, wie die Gesellschaft ihr zugesteht. Die negativen Erscheinungen in Europas christlicher Vergangenheit sind nicht Ergebnisse aus der Realisierung christlicher Maximen, sondern der Abkehr von ihnen. (Fs) (notabene)
52a Damit sind auch schon die Grenzen für kirchliches Wirken im Zuge der europäischen Integration aufgezeigt. Hinzuweisen ist dabei auch darauf, daß den Christen heute im Unterschied zum ausgehenden 19. Jahrhundert und der Weimarer Zeit kein politischer Arm mehr zur Verfügung steht, wie ihn die christlichen Parteien der Vergangenheit dargestellt haben. (Fs)

52b Hinzu kommt noch das "innerchristliche" Faktum der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts, die mit den Namen Luthers, Zwinglis, Calvins und Heinrichs VIII. von England verbunden ist. Was seither vom Evangelium hörbar wird, ist hinsichtlich nicht weniger Inhalte ein reichlich dissonantes Konzert. Dies gilt gerade von solchen Lehrinhalten bzw. sittlichen Normen, die das Leben der Gesellschaft unmittelbar betreffen. Es mag genügen, die Stichworte Ehe, Familie, Abtreibung, Homosexualität, In-vitro-Fertilisation, Euthanasie zu nennen, bezüglich derer die katholische Kirche weithin allein auf dem Boden der genuinen christlichen Überlieferung steht. Sie wird sich in diesen Punkten - andere werden zweifellos hinzukommen - auf keine Unterstützung von außen verlassen können, wenn es gilt, den authentischen christlichen Standpunkt gegenüber einer säkularisierten Gesellschaft zur Geltung zu bringen. Sie sieht sich im Gegenteil mit einer zweifellos noch wachsenden ideologischen Gegnerschaft konfrontiert, die ihr aus den Lagern des Liberalismus, des Individualismus und des Relativismus entgegenschlägt. All diesen Ideologien ist es eigen, keine übersubjektiv, also objektiv gültige Wahrheit, alle Menschen, insofern sie Menschen sind, gleichermaßen verpflichtende sittliche Normen anzuerkennen. Solche zu verkünden - und zwar mit Berufung auf die der Schöpfung selbst innewohnenden Ordnung und auf göttliche Offenbarung (Bibel) - erhebt die katholische Kirche jedoch den Anspruch und erregt damit Widerspruch. Was also hat sie unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch für Chancen, das Europa der Zukunft mitzugestalten? Es bleibt ihr nur die Macht des Arguments. Und dieses Argument ist - von allem anderen einmal abgesehen - eine Frage, dazu noch eine utopische Frage, nämlich: Welche Art von Gesellschaft könnte in dem neuen Europa entstehen, welche Kultur würde geschaffen, wenn das Europa von heute, wenigstens zunächst in seinen denkenden Schichten, sich entschlösse, der Gesellschaft, der Kultur des zusammenwachsenden Kontinents die Magna Charta des katholischen Verständnisses von Mensch und Welt zu Grunde zu legen? (Fs) (notabene)

53a Das würde nichts anderes bedeuten, als daß das Naturrecht im klassischen Verständnis, der Dekalog des Alten und die Bergpredigt des Neuen Testaments den Maßstab abgeben würden, an dem die Normen für das private wie für das gesellschaftliche Leben sich bewähren müßten. Keine Frage, daß eine solche Gesellschaft bei weitem humaner wäre als jene, in der die Macht des Stärkeren dem schrankenlosen Egoismus des Individuums Bahn zu brechen vermag, in der der Schwächere keine Chance hat und in der Geld, Macht und Genuß als höchste Lebensziele gelten. (Fs)

53b Wenn nun andererseits der Unantastbarkeit der Person, der Verantwortung des einzelnen für das Ganze, der Ehrfurcht vor dem Schöpfer und den Geschöpfen, der Würde von Ehe und Familie gleichsam "Verfassungsrang" zuerkannt würde, dann würde das zweifellos nicht das Paradies auf Erden zur Folge haben. Wohl aber könnte auf dieser Basis bei aller Bruchstückhaftigkeit irdischer Realisierung eine weit menschenfreundlichere Gesellschaft entstehen als jene, in der wir heute leben. Eine Utopie gleich jener von Kants "Ewigem Frieden"? Wie aber an der Marxschen Utopie von der klassenlosen Gesellschaft zu sehen ist, entfalten Utopien ihre - in diesem Falle weltzerstörende - Kraft. Warum sollte nicht auch die Utopie eines christlichen Europas ihre gestaltende, aufbauende Dynamik erweisen? Inzwischen kann Europa auf ein Jahrhundert der Katastrophen zurückblicken. Sie waren als letzte Konsequenzen aus der nationalsozialistischen und der marxistischen Ideologie erwachsen, deren menschenfeindlicher Irrtum sich solchermaßen drastisch erwiesen hat. Im Augenblick scheint es, als strebe nach deren Untergang die Ideologie des Liberalismus an die Macht. Hier ist freilich nicht von jenem Liberalismus die Rede, der sich die Freiheit des Bürgers von staatlicher Bevormundung auf die Fahnen geschrieben hat. Es ist jener Liberalismus gemeint, der jede Bindung des Individuums an allgemein gültige Wahrheit und Normen ablehnt. Dieser Liberalismus, der dem einzelnen das Recht vindiziert, seinem höchst individuellen Sittenkodex, seiner "je meinigen Wahrheit" zu folgen, scheint in der Tat am Werk. Die Formen, in welchen er sich äußert, sind zu bekannt, als daß sie hier dargestellt werden müßten. Sie sind aber zweifellos von der Art, daß, sollte sich diese Ideologie im gleichen Umfang durchsetzen wie jene des Nationalsozialismus und des Marxismus, sich daraus die vielleicht lautlosere, aber um so zerstörerischere Katastrophe des 21. Jahrhunderts entwickeln müßte. Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" könnte eine Zukunftsvision sein. In dieser Situation stellt sich die Frage, ob dieses Europa von heute nicht doch die Neugier und den Wagemut aufzubringen vermöchte, das "katholische Experiment" zu riskieren. (Fs)

54a Als der bedeutende schottische Staatsmann und Historiker Th. B. Macaulay im Jahre 1840 Leopold von Rankes Werk "Die römischen Päpste" im "Edinburgh Review" rezensierte, schrieb er: "Es gibt und es hat auf dieser Erde kein Werk des menschlichen Geistes (human policy) gegeben, das sosehr untersucht zu werden verdient, wie die katholische Kirche ... Keine andere Institution existiert heute noch, die in die Zeit zurückreicht, in der im Pantheon die Opfer rauchten und im Flavischen Amphitheater Leoparden und Tiger sprangen. Die stolzesten Königshäuser sind nur von gestern im Vergleich mit der Reihe der römischen Päpste ... Das Papsttum besteht, es befindet sich nicht im Niedergang, ist keine bloße Antiquität, sondern voll des Lebens und jugendlicher Kraft ... (Die katholische Kirche) mag auch dann noch in unverminderter Kraft dastehen, wenn irgendein Tourist aus New Zealand inmitten einer weiten Wüste sich auf einen gebrochenen Bogen der London Bridge setzt, um die Ruinen von St. Paul's zu zeichnen". (Fs)

55a Nichts spricht dafür, daß Macaulays Vision sich nicht erfüllen sollte. Was also würde Europa riskieren, wenn es sein Vertrauen einem Unternehmen schenkte, das zweitausend Jahre ohne Bankrott überstanden hat? Aber - das ist, wie gesagt, eine Utopie. (Fs)

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