Autor: Beckmann, Jan P. Buch: Wilhelm von Ockham Titel: Wilhelm von Ockham Stichwort: Ockham; Logik - Argumente und Beweise; notwendigt (Aristoteles) - kontingent, Kontingenz; Beispiel Sokrates Kurzinhalt: Hier liegt offenkundig ein neues, von Aristoteles abweichendes Verständnis von 'Notwendigkeit' vor ...
Textausschnitt: 4. Argumente und Beweise
78a Die Theorie der Argumente und Beweise nimmt den dritten und mit Abstand größten Teil von Ockhams Summa Logicae ein. Es geht dort zunächst um die Argumentation als solche, sodann um den Beweis und anschließend um die Lehre von den Konsequenzen; den Abschluß bildet die Theorie der Fehlschlüsse. Im Mittelpunkt steht die Theorie der Syllogismen. Unter einem Syllogismus versteht Ockham ein Verfahren, in welchem aus zwei gesicherten Prämissen eine mit Notwendigkeit aus ihnen resultierende Schlußfolgerung gezogen wird (vgl. OP I, 361). Ein Syllogismus besteht mithin formal aus drei Sätzen, welche in einer bestimmten Ordnung zueinander stehen ('praemissa maior', 'praemissa minor', 'conclusio'). Syllogismen werden je nach Stellung des Mittelbegriffs in verschiedene Figuren eingeteilt. Ockham folgt diesbezüglich der bekannten, auf Aristoteles zurückgehenden Tradition.1 Aus Raumgründen wollen wir uns auf die für die Wissenschaft wichtigste Form des Syllogismus, den Beweis ('Syllogismus demonstrativus') konzentrieren, zumal hier die besondere Leistung Ockhams deutlich wird. (Fs)
79a Zur Erinnerung: Nicht alle Argumente sind syllogistischer und nicht alle Syllogismen demonstrativer Natur; nur letzterer aber führt im strengen Sinne des Beweiswissens zu wissenschaftlicher Erkenntnis. Ein 'Syllogismus demonstrativus' liegt vor, wenn die Schlußfolgerung eines Beweisverfahrens auf evident bekannten notwendigen Prämissen beruht (vgl. OP I, 259). Einzig diese Art des Syllogismus produziert Wissen im strengen Sinne ("scientia proprie dicta"). Als Prämissen können Sätze fungieren, welche Prinzipiencharakter haben, d.h. weder eines Beweises fähig noch bedürftig sind, oder Sätze, welche Ergebnisse eines vorhergegangenen Beweisverfahrens sind. Entscheidend ist, daß die Prämissen mit Notwendigkeit wahr sind. 'Notwendig' heißt hier nicht, daß es sich um so etwas wie "ewige und unvergängliche Wahrheiten" (OP I, 512) handelt, sondern daß es keinen vernünftigen Zweifel an der Wahrheit der Prämissen gibt. Ockham legt großen Wert auf die Unterscheidung zwischen einem 'notwendigen Sein' ('esse necessarium') und einem 'mit Notwendigkeit wahr und nicht falsch sein Können' ("necessario esse verum vel non posse esse falsum"). Notwendig-Sein gilt bedingungslos, notwendig Wahr-Sein dagegen bedingt. Eine Schlußfolgerung kann nur eine notwendige sein, wenn sie überhaupt formuliert wird. (Fs)
79b Hier liegt offenkundig ein neues, von Aristoteles abweichendes Verständnis von 'Notwendigkeit' vor. Wenn es beim Stagiriten heißt: "Der Mensch ist mit Notwendigkeit ein Lebewesen",1 so ist dies nach Ockham nicht so zu verstehen, als sei damit behauptet, die Beziehung zwischen 'Mensch' und 'Lebewesen' stelle eine ontische Notwendigkeit dar, sondern lediglich, daß, verbindet man die beiden Termini 'Mensch' und 'Lebewesen' in einer Aussage miteinander, diese Verknüpfung eine notwendige ist. Es kann sich dabei schon deswegen nicht um eine ontische Notwendigkeit handeln, weil der Mensch kein notwendiges, sondern ein kontingentes Wesen ist. Da nun die ontische Notwendigkeit, welche ihrer Natur nach eine bedingungslose ist, ausscheidet, bleibt nur die kontingente Notwendigkeit. Diese aber ist ihrer Natur nach eine bedingte: Wenn es zumindest einen Menschen gibt, dann ist das Urteil, der Mensch sei ein Lebewesen, mit Notwendigkeit wahr. Notwendig wahr ist eine Aussage dann, wenn sie nicht falsch sein kann. Dies muß jedoch der Bedingung der Kontingenz angepaßt werden. Soll unser Beispielsatz Bestandteil einer wissenschaftlichen Argumentation werden, so muß er lauten: In unserer kontingenten Welt, wie sie ist, ist der Zusammenhang zwischen den Begriffen 'Mensch' und 'vernunftbegabtes Lebewesen' insofern ein notwendiger, als die Verknüpfung beider Termini im Satz, sofern und sobald sie erfolgt, nicht falsch sein kann. (Fs)
80a Auch wenn es sich hierbei ontologisch gesehen nur um eine bedingte Notwendigkeit handelt, so ist doch unser Beispielsatz als ein wissenschaftlicher Satz zu betrachten, denn er ist mit logischer Notwendigkeit wahr. Auf diese Weise ist es möglich, notwendige Aussagen über Kontingentes zu formulieren, ohne das Kontingente seines Charakters der Nicht-Notwendigkeit zu berauben. Die konditionale Formulierung solcher Aussagen ändert nämlich nichts am ontologischen Status des Aussagegegenstandes, wohl aber verleiht sie der Aussageform den Charakter der Notwendigkeit. Daß der Mensch ein vernunftbegabtes Lebewesen ist, stellt eine Aussage über einen kontingenten Sachverhalt dar: Die Welt hätte auch anders aussehen und der Mensch anders erschaffen sein können. Daß aber die beiden Termini 'Mensch' und 'vernunftbegabtes Lebewesen' in einer Aussage miteinander verbunden werden, thematisiert einen notwendigen Zusammenhang. Notwendig ist hier nicht das Seiende 'Mensch', wohl aber die Aussage über ihn. (Fs)
80b An dieser Stelle ist ein Blick auf die logische Bedeutung von 'Kontingenz' am Platz. 'Kontingenz' (von lat. contingere, als Verbum intransitivum = zutreffen, eintreten, sich fügen) meint wörtlich das Sich-Fügende. Wenn die mittelalterlichen Denker die Welt und alles in ihr als kontingent bezeichnen, so in dem Sinne, daß die Welt so beschaffen ist, wie Gott es gefügt hat. Da Gott aber gänzlich frei in seinem Tun und Lassen ist, unterliegt er in seinem Schöpfungsakt keinerlei Zwang. Diese Zwangslosigkeit ist in seine Schöpfung eingegangen: Die Welt ist nicht Ausdruck irgendwelcher Notwendigkeiten, sondern sie ist das von Gott aus Freiheit Gefügte. D.h., sie ist kontingent im Sinne desjenigen, was nicht notwendig ist. Nun ist aber auch das Nur-Mögliche etwas Nicht-Notwendiges. Das Kontingente und das Mögliche haben also denselben Gegenbegriff, den der Notwendigkeit. Gleichwohl unterscheiden sich Kontingentes und Mögliches in einem wichtigen Punkt voneinander: Das Kontingente kann möglich sein, es kann aber auch wirklich sein. Kontingent ist nämlich zum einen dasjenige, was noch nicht ist, aber widerspruchsfrei sein könnte, mithin möglich ist; zum anderen ist kontingent dasjenige, was wirklich ist, auch wenn es ohne Widerspruch anders sein könnte, als es ist. Man kann in diesem Sinne von einer Kontingenz des Möglichen und einer Kontingenz des Wirklichen sprechen. Beide Bereiche unterliegen der gleichen Forderung nach Widerspruchsfreiheit und stehen in Opposition zur Notwendigkeit. Die Welt, so könnte man sagen, ist insoweit im doppelten Sinne kontingent: einmal, weil sie der Inbegriff alles dessen ist, was ist, aber auch anders sein könnte, sofern kein Widerspruch entsteht; zum zweiten, weil sie eine mögliche Welt unter anderen möglichen Welten ist. (Fs) (notabene)
81a Der Hintergrund dieser Unterscheidung ist modallogischer Natur: 'kontingent' ist ein bestimmter logischer Modus im Unterschied zu anderen Modalitäten wie Möglichkeit und Notwendigkeit. Eine Aussage steht im Modus der Kontingenz, wenn sie möglich, aber nicht notwendig ist. Man kann aber auch wie folgt definieren: Eine Aussage ist kontingent dann, wenn weder sie selbst noch ihr Gegenteil notwendig ist. In beiden Fällen muß freilich Widerspruchsfreiheit gegeben sein. Von diesem modallogischen Gebrauch des Ausdrucks 'kontingent' zu unterscheiden ist der ontologische Gebrauch. Danach heißt 'kontingent' alles dasjenige, was zwar so ist, wie es ist, aber auch widerspruchsfrei anders sein könnte, als es ist. In diesem Sinne gibt es nur ein einziges Seiendes, das nicht kontingent, sondern notwendig ist: Gott, das unverursacht Seiende, das nicht anders sein kann, als es ist. Wenn die mittelalterlichen Denker die Welt kontingent genannt haben, so deswegen, weil die Welt und alles in ihr Seiende in sich keinen hinreichenden Existenzgrund hat, sondern sich von etwas anderem herleitet, nämlich von der Erstursache Gott. Hier meint Kontingenz ganz offensichtlich eine Sachqualität. Von dieser ontologischen Verwendung von Kontingenz ist die modallogische zu unterscheiden: Kontingent ist eine Aussage, die weder notwendig noch unmöglich ist und deren Gegenteil keinen Widerspruch einschließt. Eine Aussage p ist kontingent dann, wenn weder p noch nicht-p notwendig wahr ist, das eine oder das andere aber widerspruchsfrei möglich ist. In diesem Fall bezeichnet Kontingenz ersichtlich keine Sachqualität, sondern eine Satzmodalität. Ist eine kontingente Aussage, d.h. eine solche, die weder notwendig noch unmöglich ist, wahr, dann ist sie faktisch wahr. (Fs)
82a Wie konsequent Ockham die Verlegung der Notwendigkeit aus dem ontologischen in den logisch-semantischen Bereich betreibt, zeigt seine Behandlung der aristotelischen These, alles was ist, sei, sobald es existiert, notwendig, und zwar deswegen, weil es dann nicht mehr die Möglichkeit des Nicht-Seins noch die des Noch-nicht-Seins hat. Zwar ist es nicht notwendig, daß etwas existiert, doch wenn etwas erst einmal existent geworden ist, dann stellt seine Existenz eine Notwendigkeit dar.2 Ockham scheut sich nicht, dieses aristotelische Diktum, das ihm in der lateinischen Übersetzung "omne quod est, quando est, necesse est esse" vorliegt, "dem Wortlaut nach für schlechthin falsch" zu erklären. Der Wortlaut nämlich suggeriere eine temporale Verbindung zwischen Sein und Notwendigsein. Dies zu behaupten, liege jedoch nicht in der Absicht des Aristoteles. Vielmehr habe der Stagirite gemeint: Von allem, was ist, wird mit Notwendigkeit verifiziert, daß es ist, "sofern dabei die Zeitbestimmung mitberücksichtigt wird" (OP II, 420). Damit versteht Ockham die aristotelische Behauptung nicht als eine temporale, sondern als eine konditionale, die überdies nur im nachhinein unter Berücksichtigung des Zeitfaktors verifizierbar ist. Notwendig ist nicht das Seiende, auf das geschlossen wird, sondern die Schlußfolgerung selbst; es ist die Aussage notwendig, nicht das Ausgesagte. (Fs) (notabene)
83a Diese Verlagerung der Notwendigkeit aus dem Bereich der Dinge in den der Aussagen bzw. Sätze gibt Ockham die Möglichkeit, weiterhin an seiner These festzuhalten, daß auch in einer Welt von durchgehender Kontingenz wissenschaftliche Aussagen den Charakter der Notwendigkeit besitzen können. Mit anderen Worten: Man kann aus ontologisch Kontingenten durchaus logisch Notwendiges ableiten, ohne daß das Kontingente damit seinen Charakter verliert. Daß Wissenschaft von Notwendigem handelt bzw. handeln muß, impliziert nicht, zumindest nicht zwangsläufig, daß auch die von der Wissenschaft behandelten Gegenstände notwendig sind. So kann Ockham zusammenfassend sagen: "Eine allen Aussagen gemeinsame, für den Beweis erforderliche Eigenschaft ist die Notwendigkeit. Keine Aussage, die für einen Beweis erforderlich ist, ist nämlich kontingent, jede ist notwendig. Daß die Schlußfolgerung eine notwendige ist, geht aus der Definition des Beweises hervor: Ein Beweis ist ein Syllogismus, der bewirkt, daß man eine Aussage als eine notwendige begreift. Mithin ist auch die Schlußfolgerung notwendig. Gleichwohl ist das Notwendige, obwohl man es aus Kontingentem ... ableiten könnte, als solches nicht wissenschaftlich wißbar. Es müssen also die Prämissen, aufgrund deren man die Schlußfolgerung erhält, notwendig sein" (OP I, 511). Ontische Notwendigkeit wäre nicht von Zeitlosigkeit bzw. Ewigkeit unterscheidbar. Ontische Notwendigkeit kann mithin nur Gott zukommen. Dagegen ist die für Wissenschaft erforderliche ontologische Notwendigkeit eine solche, die unter der Bedingung der Kontingenz und damit unter der Bedingung der Zeitlichkeit steht. Für ein Sein, welches notwendig ist, gibt es in einer durchgängig kontingenten Welt keinen Platz, wohl aber für ein "mit Notwendigkeit Wahr-Sein und nicht Falsch-Sein-Können". Entsprechend gibt es in einer kontingenten Welt keine Aussagen über Notwendiges ('propositiones de necessario'), wohl aber notwendige Aussagen ('propositiones necessariae'). (Fs)
84a Ockhams Theorie notwendig wahrer Aussagen über kontingente Sachverhalte spielt eine entscheidende Rolle in der Metaphysik; wir werden hierauf in Kap. V zurückkommen. Hier bleibt nur festzuhalten, daß eine notwendige Aussage nicht mit einer Aussage über etwas Notwendiges verwechselt werden darf. Die für alles Beweiswissen erforderliche Notwendigkeit ist keine ontische Qualität von Dingen, sondern eine prädikative Modalität von Aussagen. Dies gilt nach Ockham nicht nur für die sog. 'demonstrationes quia', deren Prämissen nicht schlechthin früher bekannt sind als die Schlußfolgerung, sondern auch für die höchste Form des Beweises, die 'demonstratio propter quid', bei der die Prämissen in ihrer Notwendigkeit und Priorität im vorhinein bekannt sind (OP I, 536f). (Fs)
84b Logik und Sprache, so können wir festhalten, haben nicht mit Gegenständen, sondern mit Zeichen zu tun, und zwar mit Zeichen, die entweder für Gegenstände oder für andere Zeichen stehen. Da sprachliche Zeichen im Satz als Subjekt- und Prädikatterm auftreten, hat die Logik zum einen die Aufgabe, die Eigenschaften von Termini wie Signifikation und Supposition zu untersuchen und zu klären. Sodann obliegt es ihr, die Weisen der Verknüpfung von Termini in der Aussage darzulegen und die Bedingungen wahrer Aussagen festzulegen. Und schließlich: Da nicht nur Termini zu Aussagen, sondern auch Aussagen zu Argumenten verknüpft werden können, hat die Logik sich mit Argumenten, allen voran mit solchen syllogistischer Form, zu beschäftigen. Ihre vornehmste Aufgabe besteht darin, die zu wissenschaftlichen Beweisen führenden Schlußfolgerungen auf ihre formale Qualität hin zu bestimmen. (Fs)
84c Ockham erteilt allen Versuchen, die Logik zu einer Art 'Superdisziplin' zu stilisieren, eine Absage, desgleichen allen Versuchen, die Unterschiede zwischen Logik und Metaphysik zu verwischen (vgl. OP I, 542 ff). Die Logik ist im Unterschied zu den 'Realwissenschaften' ('scientiae reales'), die sich, wie z.B. die Physik, mit in der Natur vorkommenden Einzeldingen beschäftigen, 'Rationalwissenschaft' ('scientia rationalis'). Ihr Gegenstand sind Denkprodukte. Logik hat mit vernünftigern Denken und Sprechen zu tun, "sie lehrt und tradiert diejenigen Regeln, welchen in jeder Wissenschaft und Kunst alle Überlegungen, seien sie gedanklicher, gesprochener oder geschriebener Natur, genügen müssen" (OP VII, 3). Andererseits ist die Verbindung zwischen Logik und Realwissenschaften von entscheidender Bedeutung für beide. Denn in allen Disziplinen bedient man sich der Worte, welche für Begriffe stehen. Begriffe aber können im Satz nicht nur für andere Begriffe, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch für reale Einzeldinge stehen. Welchen ontologischen Status freilich die gedanklichen, sprachlichen und geschriebenen Zeichen, mit deren formalen Beziehungen sich die Logik beschäftigt, besitzen, und vor allem: wie die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen Begriffen und Dingen aussieht, dies zu untersuchen ist nicht Aufgabe der Logik, sondern der Metaphysik. Ihr wollen wir uns im folgenden Kapitel zuwenden. (Fs)
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