Autor: Beckmann, Jan P. Buch: Wilhelm von Ockham Titel: Wilhelm von Ockham Stichwort: Ockham; der Gegenstand der Wissenschaft; subjectum - Objekt (4-fach); Charakterisierung einer Wissenschaft nicht über Gegenstände, sonder die Art der Aussagen Kurzinhalt: Unmittelbarer Gegenstand von Wissen und Wissenschaft ist nicht die Sache selbst, sondern die Geltung der über eine Sache ausgesagten Sätze ... Damit bricht Ockham mit der Tradition, den Wissenschaftscharakter über den Status der Gegenstände ...
Textausschnitt: 3. Der Gegenstand von Wissenschaft
59b Was den Gegenstand von Wissenschaft angeht, so gilt es zunächst wieder einige Unterscheidungen vorzunehmen. Im Lateinischen steht für 'Objekt von Wissenschaft' der Ausdruck 'subiectum scientiae'. Dieser Sprachgebrauch entspricht offensichtlich nicht dem heutigen; vielmehr meint 'subiectum' ganz im ursprünglichen Sinne das Zugrundegelegte (von lat. 'sub-icere' = darunterlegen). Wenn es heißt, etwas existiere 'subiective' im Intellekt, so ist damit nicht im neuzeitlichen Sinne eine an das einzelne Subjekt gebundene, "subjektive" Ansicht gemeint, sondern das dem Erkennen bzw. Denken Zugrundeliegende. Daß etwas 'subiective' dem Denken zugrundeliegt, ist gerade nicht an ein einzelnes Subjekt (und dessen mögliche Ideosynkrasien) gebunden, sondern meint ganz im Gegenteil die Weise gedanklicher Gegebenheit, die jedem, der sich damit beschäftigt, zugänglich ist. Die Rede vom 'subiectum scientiae' meint also genau das, was wir heute als Gegenstand, als Objekt von Wissenschaft bezeichnen. Doch gilt es hier nach Ockham erneut zu unterscheiden, und zwar zwischen einer weiteren und einer engeren Verbindung von 'subiectum'. Da er beide noch einmal aufteilt, ergeben sich insgesamt vier verschiedene Bedeutungen von subiectum: Im erweiterten Sinne ist damit (1) dasjenige gemeint, worüber oder wovon etwas gewußt wird ("illud de quo scitur aliquid"), also dasjenige, was wir heute den Gegenstand von Wissenschaft nennen, oder (2) dasjenige, was Wissenschaft in sich aufnimmt ("illud quod recipit scientiam et habet in se subiective". OP IV, 8/9), also der Intellekt des einzelnen Wissenschaftlers. Diesen beiden erweiterten Bedeutungen von 'subiectum' stehen zwei engere gegenüber. Danach meint 'subiectum' (3) das, was einer Sache zugrundeliegt ("illud quod substat rei"), die Substanz also, oder es meint (4) dasjenige, wovon bzw. worüber etwas ausgesagt wird ("illud de quo aliquid praedicatur". OP I, 92), das Satzsubjekt. (Fs)
60a Diese vierfache Unterscheidung von 'subiectum scientiae' mag auf den ersten Blick verwirren, wird aber bei näherem Zusehen einsichtig: Daß etwas Gegenstand von Wissenschaft ist, kann wissenschafts- oder erkenntnistheoretisch, es kann aber auch ontologisch oder logisch verstanden werden. Im wissenschaftstheoretischen Sinne ist 'subiectum scientiae' dasjenige, wovon etwas gewußt wird. Davon zu unterscheiden ist der erkenntnistheoretische Sinn von 'subiectum scientiae' im Sinne des Ortes, wo sich Wissen befindet, nämlich im wissenschafttreibenden Subjekt. Bei aller Deutlichkeit des Unterschieds zwischen beidem ist ihnen jedoch gemeinsam, daß die für alle Wissenschaft erforderlichen Bezüge zur Wirklichkeit resp. zur Prädikation noch nicht berücksichtigt sind. Dies geschieht erst in den beiden engeren Bedeutungen von 'subiectum scientiae', deren erste durch die Angabe der zugrundeliegenden Sache den Bezug zur Wirklichkeit ('ad exsistentiam') und deren zweite den Bezug zur Prädikation ('ad praedicationem') angibt. (Fs)
61a Von den genannten vier Bedeutungen von 'subiectum scientiae' ist für Ockham die zuletzt genannte, die logische, die entscheidende. Denn Wissenschaft hat, das ist bereits gesagt worden, mit Sätzen zu tun, und in Sätzen werden Aussagen über Satzsubjekte getroffen. Es sind diese Satzsubjekte, welche im technischen Sinne den Gegenstand von Wissenschaft bilden. Daraus folgt, daß eine gegebene Wissenschaft nicht einen Gegenstand haben kann (es sei denn, in ihr gelte nur ein einziger Satz), sondern viele Gegenstände besitzt, und zwar so viele, wie es in ihr verwendete Satzsubjekte gibt (vgl. OP I, 93). Zwar kann man in einer gegebenen Wissenschaft einen bestimmten Gegenstand auszeichnen, z.B. weil er von größter Allgemeinheit oder weil er von zentraler Bedeutung ist. So läßt sich beispielsweise sagen, daß in der Metaphysik "das Erstsubjekt unter allen Subjekten im Hinblick auf den Vorrang der Prädikation [der Begriff] 'seiend' ist". Doch läßt sich mit ebenso guten Gründen sagen, daß das herausragende Subjekt der Metaphysik "unter dem Aspekt der Vollkommenheit" Gott ist (OP IV, 10). Ähnlich läßt sich in der Naturphilosophie unter dem Gesichtspunkt der Prädikation als erstes Subjekt die physikalische Substanz, unter dem Gesichtspunkt der Vollkommenheit hingegen der Mensch herausheben. Doch alles dies ändert nichts an der Tatsache, daß in der Metaphysik wie in der Naturphilosophie mehr als eine Aussage gemacht werden kann, und daß damit auch mehr als nur ein Subjekt in ihnen vorkommt. (Fs)
61b Eine der Konsequenzen aus dem Dargelegten ist die, daß sich die Einheit einer gegebenen Wissenschaft nicht derjenigen eines einzelnen Gegenstandes verdankt. Die Einheit einer Wissenschaft leitet sich generell nicht von Gegenständen ab, sondern bestimmt sich nach Maßgabe der Ordnung der Gegenstände bzw. der Ordnung der Aussagen über dieselben. Folge: Wissenschaft ist grundsätzlich als ein offenes System von Sätzen zu begreifen. (Fs)
62a Doch wovon handelt Wissenschaft? Nach dem bisher Dargelegten muß die Frage nunmehr lauten: Wovon gelten wissenschaftliche Sätze? Ockhams Antwort hierauf hat mancher seiner Zeitgenossen - dies belegen die bereits erwähnten Statute der Universität Paris aus den Jahren 1339 und 1340 - als eine Provokation empfunden: "Realwissenschaft handelt nicht von den Dingen, sondern von Begriffen, welche für die Dinge stehen" (OP IV, 12). Ockham bestreitet damit nicht, wie ihm Zeitgenossen unterstellt haben, die Realität von Wissenschaft. Er hat lediglich genauer als die meisten erkannt, daß es zu unterscheiden gilt zwischen dem, was gewußt wird ("id quod scitur"), und demjenigen, worüber oder wovon etwas gewußt wird ("id de quo scitur aliquid"). Man könnte diese Unterscheidung durch diejenige zwischen Geltung und Sache wiedergeben: Unmittelbarer Gegenstand von Wissen und Wissenschaft ist nicht die Sache selbst, sondern die Geltung der über eine Sache ausgesagten Sätze. Diese Unterscheidung ist deswegen wichtig, weil Dinge oder Sachen etwas vom Denken Unabhängiges sind oder sein können, während Sätze bzw. die Geltung der Verknüpfungen von Subjekt- und Prädikatterm Leistungen des Denkens sind. Wissenschaft vermag die Dinge nicht gleichsam zu assimilieren, sie vermag dieselben nur auf dem Umwege über Begriffe und deren Verknüpfung zu Sätzen sowie deren Verbindung zu Argumenten zu thematisieren. Genau dies ist der Grund für Ockhams oft mißverstandene obige Äußerung und nicht die ihm unterstellte Absicht, die Möglichkeit oder Realität der Wissenschaft von den Dingen zu leugnen. Gewußt werden nicht Dinge, sondern Sätze über die Dinge ("Solae propositiones sciuntur". OT II, 134). (Fs)
62b Damit bricht Ockham mit der Tradition, den Wissenschaftscharakter über den Status der Gegenstände zu bestimmen, und ersetzt sie durch den Ansatz, den Wissenschaftscharakter statt über Objekte nach Maßgabe der Art und Weise zu bestimmen, wie über Gegenstände Aussagen gemacht werd n. Mit dieser methodologischen Innovation leitet er eine wissenschaftstheoretische Entwicklung ein, deren Konsequenzen weit in das Denken der Neuzeit hineinwirken. Zu den unmittelbaren Konsequenzen gehört unter anderem - wir werden hierauf im Kapitel V näher eingehen - die Neubestimmung der Möglichkeit und Aufgabe der Metaphysik, welche sich nicht mehr über ihren Gegenstand als Sachwissenschaft, sondern über die besondere Weise der Rede über ihren Gegenstand als Satzwissenschaft etabliert. Zuvor gilt es, den Zusammenhang zwischen Sätzen und Zeichen näher zu betrachten. (Fs)
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