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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Erkenntnis 2: intuitiv, abstraktiv; im Ggs. zu Aristoteles: keine species intelligibilis

Kurzinhalt: Vermittelst der intuitiven Erkenntnis ist der Mensch unmittelbar mit der Wirklichkeit der Dinge verbunden, es bedarf dazu keiner Zwischenwelt als vermittelnder Instanz.

Textausschnitt: 52b Festzuhalten ist hier die enge Verbindung, die Ockham zwischen der sinnlichen und der intellektiven Seite der 'intuitiven' Kenntnis knüpft. Das Einzelseiende ist raum-zeitlich identifizierbar und insofern zunächst der Sinneswahrnehmung intuitiv zugänglich. Ockham spricht von der 'intuitiven' Kenntnis vermittelst der Sinne ('notitia intuitiva sensitiva'), welche der 'intellektiven' ('notitia intuitiva intellectiva') vorausgehen muß. Er ist, wie übrigens Aristoteles auch, wegen dieser und ähnlicher Ansichten zu den Empiristen gezählt worden; zu Unrecht. Weder Ockham noch Aristoteles hat die These des Empirismus à la John Locke vertreten, Wissenschaft sei nur vom empirisch Gegebenen möglich. Dies schon deswegen nicht, weil es zunächst gar nicht um Wissenschaft, sondern um die Frage evidenter Erkenntnis des Einzelseienden geht, für welche sinnliche Wahrnehmbarkeit unabdinglich ist. Damit wird jedoch nicht behauptet, es gäbe nur letztere. Neben den sinnlich wahrnehmbaren gibt es die nur dem Denken zugänglichen Objekte, wie Gedanken, Affekte, Erwartungen etc. Dieselben sind, sofern präsent, d.h. bewußt, ebenfalls dem intuitiven Erkennen zugänglich, allerdings ausschließlich der 'intellektiven intuitiven Erkenntnis'. Dieselbe setzt, weil auf die kontingent existierenden Einzeldinge hin ausgerichtet, Sinneswahrnehmung voraus (vgl. OT I, 67). Ockham erweist sich insoweit als treuer Aristoteliker, für den "der Verstand nichts erkennt, es sei denn, es ist ihm zuvor durch die Sinne vermittelt worden" ("nihil intelligitur ab intellectu nisi quod praefuit sub sensu". OT I, 67). Das Gebundensein an die Vermittlung durch die Sinne schafft jedoch noch keine Wissenschaftsfähigkeit. Diese leistet erst die intellektive 'intuitive' Erkenntnis. Ockham: "Wissenschaftliche Erkenntnis beginnt generell mit der notitia intuitiva intellectiva" (OT I, 33). (Fs)

53a Wenn Ockham in Anlehnung an Aristoteles feststellt, jede intellektive intuitive Erkenntnis habe eine sensitive "zur Voraussetzung" ('praesupponit'), so ist dies nicht so zu verstehen, als vermöchte der Intellekt ganz und gar nichts zu erkennen, es sei denn, es habe sich zuvor in den Sinnen befunden, sondern so, daß der Intellekt "nichts ihm Äußerliches, sinnlich Wahrnehmbares zu erkennen vermag, es sei denn, daß es zuvor der Sinneswahrnehmung ausgesetzt gewesen ist" (OT I, 67/68). Was dem Intellekt hingegen nicht äußerlich ist, wie z.B. die eigenen Erkenntnisakte, Willensäußerungen, Affekte etc., kann naturgemäß auch nicht sinnlich wahrgenommen werden. Die Sinneswahrnehmung kann insoweit in diesen Fällen auch nicht zur Voraussetzung der intellektiven Erkenntnis gemacht werden. Ockham ist, so wenig wie Aristoteles, Empirist, wohl aber Empiriker, für den gilt: Was immer sinnlich wahrnehmbar ist, bedarf, um erkannt zu werden, der vorherigen Sinneswahrnehmung. Keineswegs folgt daraus, daß alles, was erkennbar ist, zuvor sinnlich wahrnehmbar gewesen sein muß. Dies hieße nicht nur Erkenntnis im empiristischen Sinne einschränken, es hieße auch und vor allem, die Art und Weise von Erkenntnis von der Art und Weise des Gegebenseins ihrer Gegenstände abhängig machen. (Fs)

54a Wenn, wie gezeigt, intuitive und abstraktive Erkenntnis nicht Weisen der Objektgegebenheit, sondern Weisen des Erkenntniszugangs zu Objekten sind, dann stellt sich als nächstes die Frage, woher der Anstoß zu Erkenntnis kommt. Ockhams Antwort hierauf lautet unmißverständlich: von Seiten der Singularia, der Einzeldinge. Es ist das Einzelding, welches die intuitive Erkenntnis unmittelbar verursacht (vgl. OT V, 284). Zwischen der 'res singulans' und dem 'actus cognoscendi', so Ockham, braucht es kein Medium von eigener Realität, wie dies etwa die thomistische Erkenntnistheorie unter Berufung auf Aristoteles in Form der vom Intellekt zwecks Erkenntnis der Einzeldinge eigens herzustellenden 'intelligiblen Spezies' behauptet. Hiergegen setzt Ockham sein hartes "das Einzelding selbst wird umittelbar, ohne jedes Medium zwischen ihm und dem Erkenntnisakt ... erkannt" ("ipsa res immediate, sine omni medio inter ipsam et actum, ... apprehenditur". OT V, 276). Die konsequente Ablehnung von 'species intelligibiles' stellt nicht etwa nur eine Besonderheit der Ockhamschen gegenüber der traditionellen thomistischen Erkenntnistheorie dar, sondern ist Zeichen für eine grundsätzlichere Differenz. Hintergrund der Annahme intelligibler Spezies ist die Vorstellung, daß es im Erkenntnisakt zu einer Assimilierung zwischen Intellekt und Dingen kommt - eine Beziehung, die nach Ockham schon deswegen unmöglich ist, weil es zwischen so heterogenen Beziehungsgliedern wie Dinglichem (den Singularia) und Geistigem (dem Erkenntnisakt) infolge ihrer ontologischen Differenz eine solche Verähnlichung gar nicht geben kann. Die Annahme einer zwischen Einzelding und Erkennen bestehenden 'species intelligibilis' ist mithin unbegründet. (Fs)

55a Ockham hält die Annahme, zwischen erkennendem Intellekt und den existierenden Einzeldingen bestehe eine wie auch immer geartete strukturelle Affinität, dergestalt, daß in der Erkenntnis etwas von der Welt repräsentiert, abgebildet oder wiedergegeben wird, für grundsätzlich verfehlt (vgl. OT V, 274 f). Nähme man eine solche Affinität an, würde man sich in einen unendlichen Regreß verwickeln: Die Affinität oder die Repräsentation selbst wäre ihrerseits ein neues Erkenntnisobjekt, welches wiederum einer Repräsentationsbeziehung bedürfte, etc. ad infinitum. Vermittelst der intuitiven Erkenntnis ist der Mensch unmittelbar mit der Wirklichkeit der Dinge verbunden, es bedarf dazu keiner Zwischenwelt als vermittelnder Instanz. Dies sowie Ockhams These, daß die Einzeldinge die Ursache für die Erkenntnis sind, könnte den Eindruck erwecken, als läge hier ein ziemlich kruder erkenntnistheoretischer Materialismus vor. Eine solche Deutung würde die von Ockham gemeinte Unmittelbarkeit und Kausalität jedoch mißverstehen. In Wahrheit ist die hier gemeinte Unmittelbarkeit gleichermaßen Ausdruck für ein fehlendes Medium wie für das Gegenüber von Erkenntnis und Gegenstand und damit der wesentlichen Differenz zwischen beiden. Und was die Kausalität der Einzeldinge angeht, so handelt es sich dabei nicht um eine Verursachung im physikalischen Sinne, welche nur möglich ist bei Ko-Präsenz von Ursache und Wirkung; vielmehr geht es um Kausalität im Sinne bedingender Vorgängigkeit der Einzeldinge vor ihrer Erkenntnis. Wenn, wie wir gesehen haben, intuitive Erkenntnis in den Stand versetzt, die Frage der Existenz oder Nichtexistenz einer Sache mit Gewißheit zu entscheiden, dann ist die Ursache hierfür in der Existenz bzw. Nichtexistenz der betreffenden Sache zu suchen. Hierzu bedarf es nicht der Präsenz des Gegenstandes; genau dies aber wäre die Voraussetzung für Kausalität im physikalischen Sinne. (Fs) (notabene)

55b Daß es das Einzeldingliche ist, mit dem wir unmittelbar intuitiv bekannt sind, und daß das Einzelding die Ursache hierfür ist, besagt nicht notwendig, daß sich darin die erkenntnistheoretische Struktur erschöpfen würde. Dies kann schon deswegen nicht der Fall sein, weil bisher lediglich von der Bekanntschaft mit Begriffen die Rede gewesen ist. Erkenntnis im eigentlichen Sinne bedarf der Urteilsform; diese besteht aus Sätzen ('complexa'), d.h. aus der Verknüpfung von Subjekt-und Prädikattermini. Die Verknüpfung von Termini im Satz unterliegt bestimmten Regeln, auf die wir im Kapitel IV zu sprechen kommen werden; dort wird uns auch die Frage nach den Wahrheitsbedingungen von Sätzen beschäftigen. Im folgenden gilt es zunächst zu klären, was Ockham unter 'Wissen' und ,Wissenschaft' versteht. (Fs)

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