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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; homo eligens; Faschismus (Nolte) - Moderne; heuristischer Rahmen: Redemptoris Missio, Centesimus Annus, Fides et Ratio;


Kurzinhalt: ... Position der europäischen Integration im öffentlichen Leben: Sie ist nicht mehr wie im Moment der Gründung die Antwort auf eine Vertrauenskrise, sondern nach fünfzig Jahren einer der Gründe für diese Krise.

Textausschnitt: 145b Das Paradox des Erfolges hat eine zweite, tiefere Dimension. In seinem Gründungsmoment wurde der europäische Bau als Teil eines moralischen Imperativs mit Blick auf das Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs aufgefasst. Die Regierungen und die Staaten hätten ihr nationales Interesse still verfolgen können, doch man kleidete das europäische Projekt in den vornehmen Mantel eines wiedergefundenen Idealismus. In Europa ist der Krieg zweifellos undenkbar geworden, genau wie die Gründerväter es vorhergesehen haben; und mit diesem enormen Erfolg bei der Erreichung seines Hauptziels stellt sich Europa nun als Zuteilungsinstanz von panem et circenses dar. Nimmt man den moralischen Imperativ und den Mantel an Idealen fort, so sieht sich die europäische Politik regelmäßig mit dem entmutigenden Sachverhalt konfrontiert, dass es bei Wahlen nicht gelingt, in Europa "die alten Gauner hinauszuwerfen". (Fs)

145c Vermutlich hat das öffentliche Verhalten noch tiefere Beweggründe. Wir kommen hier zu einer tieferschürfenden Erwägung, auf deren Grundlage man begreifen kann, wie die Europäische Union nicht einfach einen Verlust ihrer ursprünglichen geistigen Werte erlitten hat, sondern vielmehr eine echte Quelle von sozialem Ressentiment ist. Genau hier kulminiert ein Thema, das mehr als eine stichwortartige Behandlung verdienen würde. (Fs)

146a In seinen prä-cholerischen [eg: sic] Tagen schrieb Ernst Nolte einen faszinierenden Essay über die Ursprünge des Faschismus in seinen verschiedenen europäischen Spielarten. Er betrachtet auf eine Weise, die erschauern lässt, das Aufkommen des Faschismus in Italien, Frankreich und Deutschland in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. In seiner tiefsinnigen vergleichenden Analyse der politisch-kulturellen Wurzeln des Phänomens identifiziert er den gemeinsamen Ursprung in der Reaktion auf einige Manifestationen der Moderne. (Fs)

146a Auf praktischer Ebene sind die Hauptmanifestationen der Moderne die gewachsene Bürokratisierung des öffentlichen und privaten Lebens, die Entpersönlichung des Marktes (mit Massenkonsum, Verbreitung von kommerziellen Marken u. ä.) und die Kommerzialisierung der Werte; die "Abstraktheit" des sozialen Lebens, besonders durch untereinander in Wettbewerb stehende Formen der Mobilität (man spricht über Armut, ohne die Armen zu sehen; man spricht über Arbeitslosigkeit, aber während der Frühstückspause); die rapide Verstädterung und die Zentralisierung der Macht. (Fs)

146b Auf epistemologischer Ebene setzte die Moderne die Absicht voraus (und erfuhr sie), die Welt auf verständliche Begriffe zu reduzieren, die durch Vernunft und Wissenschaft verstanden werden mussten: abstrakte und universale Kategorien. Dieser Interpretation zufolge war der Faschismus eine Antwort auf die Furcht, die diese praktischen und erkenntnismäßigen Herausforderungen erzeugten, und zugleich eine Ausnutzung dieser Furcht. Bis hierher handelt es sich um eine wohlbekannte Geschichte. (Fs)

146c Auf beunruhigende Weise scheint die Europäische Union in diesem neuen fin-de-siecle wirklich oder in der subjektiven Wahrnehmung von Einzelnen oder Gesellschaften einige dieser Charakteristika zu wiederholen: Sie stellt bereits, und sei es auch unberechtigt, die Verkörperung der Bürokratisierung und der Zentralisierung dar. Je mehr man über "Subsidiarität", "Verhältnismäßigkeit", "Kompetenzen" und ähnliches spricht, desto mehr weiß man, dass Europa in Wahrheit das Problem der Überausdehnung seiner Tätigkeitsbereiche hat. Eine seiner sichtbarsten Politiken, die gemeinsame Argrarpolitik, hatte historisch das Ziel, die Agrarbetriebe zu "rationalisieren", was im Ergebnis Verstädterung bedeutete. Der gemeinsame Markt kann mit seiner Betonung der Wettbewerbsfähigkeit und des transnationalen Verkehrs der Güter als ein moderner Anstoß zu einer noch größeren Kommerzialisierung der Werte gesehen werden (man braucht nur daran zu denken, wie die Logik der Gemeinschaft dazu zwingt, Abtreibung als "Dienstleistung" zu behandeln, für die es einen Markt gibt) sowie zu einem Verlust der Identität aller nationalen Märkte. Sind die berühmten italienischen Autos wirklich italienisch, wenn sie ganz daraufhin ausgelegt sind, dass sie für den deutschen, britischen oder irischen Verbraucher Anziehungskraft haben? Und wer würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass das für europäische Märkte bestimmte Olivenöl extravergine wirklich extravergine ist? Nicht nur die lokalen Produkte werden in Schwierigkeiten gebracht, sondern auch die nationalen haben ihre charakteristischen Eigenarten verloren. Der im eigentlichen Sinne transnationale Charakter der Union, der anfangs als eine Wiederentdeckung des Idealismus der Aufklärung gefeiert wurde, ist genau dies: universal, rational, transzendent - mit einem Wort: "modern". (Fs)

147a Jenseits dieser sogenannten und meiner Meinung nach nie gelösten "Angst der Moderne" haben wir auch andere fin-de-siècle -Erscheinungen, wie Thomas Fitzgerald brillant gezeigt hat. (Fs)

148a Um diese Phänomene zu fassen, können wir auf das rekurrieren, was Jose Ortega y Gasset creencias genannt hat, die Lebensgewissheiten, die keines Beweises bedürfen, sei es in der natürlichen, sei es in der sozialen Welt: Wasser fließt nach unten; es gibt einen Unterschied zwischen Maschinen und menschlichen Wesen; die entwickelteren Formen des Lebens unterscheiden sich nach Geschlecht usw. Zu dem, was als Herausforderung der Moderne bezeichnet wird, tritt eine tiefgehende Zertrümmerung der fundamentalsten creencias hinzu, und eine noch tiefere Zertrümmerung der Fähigkeit, an irgendetwas zu glauben. Es lohnt sich, einige Manifestationen dieses Prozesses zu umreißen. (Fs)

148b Zunächst sei auf den im vergangenen Jahrhundert durch die Sozialwissenschaften lange Zeit gewaltsam verbreiteten Reduktionismus hingewiesen: Nicht nur sind die Dinge nicht, was sie zu sein scheinen, sondern ihre Wirklichkeit hat immer eine zynische Tücke. Die Politik und ihre Codes sind eine Maske, die Ausbeutung und Machtausübung verbirgt; das Privatleben mit seinen Codes ist eine Maske, die die Herrschaft kaschiert. Mit unvermeidlicher Logik hat sich dieser Angriff gegen sich selbst gewendet, und so sind die diesen Intuitionen geschuldeten Entdeckungen kein Vehikel der Befreiung, sondern der Manipulation des Menschen geworden. Die epistemologische Herausforderung der Postmoderne verschärft die Zertrümmerung. In der modernen Sichtweise von einst gab es wenigstens eine Wahrheit zu erkunden und zu beanspruchen, auch wenn diese Wahrheit Macht, Ausbeutung und Herrschaft ausdrückte. Die verschiedenen Freuds, Marx' und Durkheims versuchen, sich die "wirkliche" Erklärung der sozialen Phänomene anzueignen, aber sie glaubten wenistens an die Möglichkeit einer "wirklichen" Erklärung. Man kann den postmodernen Egozentrismus mit seiner ironischen und spöttischen Haltung abstoßend finden. Aber, ohne ein Urteil über die philosophische Gültigkeit seiner epistemischen Prämisse abzugeben, besteht kein Zweifel, dass die Vorstellung, alle Beobachtungen seien relativ zur Wahrnehmung des Beobachters, und alles, was wir besitzen, seien nur verschiedene gleichermaßen mögliche miteinander konkurrierende Erzählungen, anfangs eine philosophische Position war, die sich dann in eine soziale Wirklichkeit gewandelt hat. All dies ist Teil der politischen Diskussion: Auf dieser Grundannahme basieren der Multikulturalismus, der Zusammenbruch der (politischen, wissenschaftlichen, sozialen) Autorität und das Vorherrschen einer Kultur, die den Individualismus und die Subjektivität betont. Die Objektivität selbst wird geradezu als Fessel für die Freiheit betrachtet. Eine seltsame Freiheit, frei von Gehalt. (Fs)

149a Schließlich hat die Zertrümmerung so vieler creencias (des Gedankens von creenda selbst) einen wirkmächtigen Ausdruck im Forum der Öffentlichkeit gefunden; dies wird vom Fernsehen beherrscht, also von den Bildern, von einem nichtaktiven Diskurs, von vermittelten Informationen, von der Einsamkeit: ein vertikales Forum von Einzelnem zu Einzelnem, kein horizontaler Diskurs. Zur Angst der Moderne kommen die Fragmentierung der Informationen, typisch für das fin-de-siecle, das Verschwinden eines kohärenten Weltbildes, der Schwund des Vertrauens in die Möglichkeit, an etwas zu glauben, und in die Fähigkeit, die Wirklichkeit zu erkennen, gar sie zu kontrollieren. (Fs)

149b Es gibt zahlreiche soziale Antworten auf diese Phänomene. Eine von ihnen besteht für viele darin, sich an irgendeine Kraft zu wenden, die "Sinn" anzubieten scheint. Es ist fast paradox (vielleicht aber nicht zur Gänze): Die ständige Berufung auf den Nationalstaat und der in vielen Gesellschaften anzutreffende Erfolg extremer Formen des Nationalismus (gemessen nicht nur an der Zahl der Wählerstimmen oder der Mitglieder, sondern auch der Fähigkeit dieser extremen Formen, sich ins Zentrum der öffentlichen Debatte zu postieren) sind teils offensichtlich der Tatsache geschuldet, dass Nation und Staat besonders wirksame Instrumente sind, um auf das existentielle Bedürfnis nach Sinn und Ziel zu antworten, das die Moderne und die Postmoderne zu negieren scheint. Die Nation und der Staat bieten mit ihren Ordnungsmythen von Schicksal und Bestimmung eine Antwort, die für viele anziehend und beruhigend ist. (Fs)

150a Auch hier ist das Versagen Europas kolossal. Wie Europa die Angst der Moderne nährt (wie ich bereits vertreten habe), so gibt es auch der Angst der Postmoderne Nahrung: Gigantisch und gleichzeitig fragmentiert, eher auf das Bild als auf Substanz hin konstruiert, ist Europa schließlich unverständlich und fordert immer mehr die creencias des täglichen Lebens innerhalb der Nationen heraus. Ich behaupte nicht, dass Europa nah daran sei, eine Rückkehr des Faschismus zu erleben; und vor allem soll diese Analyse, wenn sie irgendeinen Sinn hat, den fin-de-siecle-Chauvinisten keinerlei Genugtuung verschaffen, deren Ware heute so widerwärtig ist, wie sie es zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts war. Mir geht es vielmehr um eine tiefgreifende Veränderung der Position der europäischen Integration im öffentlichen Leben: Sie ist nicht mehr wie im Moment der Gründung die Antwort auf eine Vertrauenskrise, sondern nach fünfzig Jahren einer der Gründe für diese Krise. (Fs) (notabene)

150b Hier kommen wir dahin, eine der tiefen Paradoxien der europäischen Integration zu verstehen. Gerade diese Werte - die ihren juristischen und praktischen Ausdruck beispielsweise in der gestiegenen Mobilität, in der Überwindung der örtlichen Märkte und im Einbruch universaler Normen in die nationalen Kulturen finden - sind auch Teil der tiefen Beunruhigung der Moderne und Postmoderne vor der Zugehörigkeit zu Europa, und sie gehören zu den Wurzeln der Angst und der Entfremdung von Europa. (Fs)

150c Auch hier möchte ich behaupten, dass es viel von der augenblicklichen christlichen Lehre zu lernen gibt. Bis jetzt haben wir einige Aspekte aus dem Inneren erkundet. Nun möchte ich eine zusammenfassende Lektüre dieser Lehre vorschlagen, die von außen, als einen einheitlichen Komplex, drei seiner großen Äußerungen betrachten kann: die Enzykliken Redemptoris Missio, Centesimus Annus und Fides et Ratio. Sie bieten eine sehr kühne Antwort auf die zeitgenössische Krise. Die Probleme der Moderne und der Postmoderne sind nicht neu: Sie sind die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts selbst. Die Reaktionen, die sie hervorgerufen haben, sind bekannt. Eine Antwort auf diese Probleme könnte die Einladung sein, zur Prämoderne zurückzukehren, indem man Vernunft und Fortschritt, Technologie und Markt und die Demokratie selbst ablehnt. Dies wäre eine Sackgasse. Eine andere Antwort könnte sein, totalitären Utopien anzuhängen - mit den bekannten Folgen, die das zwanzigste Jahrhundert zu einem Gipfelpunkt der menschlichen Niedertracht gemacht haben. Die dritte mögliche Antwort ist eine Reaktion des Verzichts, die jegliches Ideal verachtet, sich am materiellen Erfolg ausrichtet und einen Zynismus gegenüber der Wahrheit und der Güte kultiviert. Die Unterweisung, die uns die drei genannten Enzykliken bieten (wenn ich den Sinn ihrer Botschaft exakt verstanden habe), ist angesichts der Moderne nicht eben zaghaft, wendet ihr aber auch nicht den Rücken zu. Sie bekräftigt im Gegenteil den Wert der Vernunft, der Wissenschaft und der Technologie, das Wohlergehen, das der freie Markt hervorbringen kann, und die Wichtigkeit der Demokratie auf dem Feld der Politik. Vor allem integriert sie die Vorstellung von Entscheidung, dieses wesentlichen Elements der Moderne, ins Herz des religiösen und menschlichen Empfindens. Immerhin ist der moderne Mensch vor allem homo eligens. Aber der homo eligens ist sich in der Sicht dieser Enzykliken seiner Grenzen bewusst, seiner moralischen Bindungen gewärtig, demütig vor den transzendenten Wahrheiten. Auch die Gesellschaft, obwohl modern, ja, die Moderne voll bejahend, ist sich ihrer Grenzen bewusst und verliert nie die Tatsache aus dem Blickfeld, dass im Zentrum der Mensch, die Familie, die menschlichen Gemeinschaften mit ihren Verantwortlichkeiten bleiben, die einen Teil ihrer Würde ausmachen und einer der Königswege sind, durch die sich ihre Liebe ausdrückt. Dieses Stück der zeitgenössischen Lehre der Kirche ist also eine Botschaft von "menschlicher Moderne". (Fs)

152a Die spirituellen Herausforderungen Europas sind groß. Dennoch soll dieses Kapitel, und damit dieser Essay, mit einer Botschaft der Hoffnung schließen. Wie bereits angemerkt, endet die Präambel des Verfassungsentwurfs mit der Bekräftigung der Überzeugung, dass das Europa der Union "einen Raum eröffnet, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann." So wird es sein, wenn auch wir lernen werden, wie man die lange Brücke der Moderne und der Postmoderne überschreiten kann, ohne die menschliche Würde und Liebe aufs Spiel zu setzen. Das Wichtige ist, keine Angst zu haben. (Fs)

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