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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; Schweigen der Christen 2: 3 Argumente; Erklärung: Freie Universität Brüssel

Kurzinhalt: Wie erklärt sich das Schweigen der Christenheit in der Diskussion der europäischen Integration, ... Der zweite Grund ist, wenn ich nicht irre, tückischer. Es gibt nämlich auch eine Verinnerlichung anderer Art.

Textausschnitt: 87a Wie erklärt sich das Schweigen der Christenheit in der Diskussion der europäischen Integration, ein umso überraschenderes Schweigen, als sich eine große Zahl von Intellektuellen oder mutmaßlichen Intellektuellen, von Politikern, von Akademikern, die Studien im Gebiet der europäischen Integration veröffentlichen, Christen nennen? (Fs) (notabene)

87b Ich will drei mögliche Erklärungen anbieten. (Fs)

Die erste ist recht einfach: Viele haben die in Italien und Frankreich verbreitet anzutreffende These verinnerlicht, die den laizistischen Staat mit dem neutralen Staat verwechselt und behauptet, dass der Imperativ des agnostischen Staates nach dem positiven Verfassungsrecht auch in die Symbolik der Präambel getragen werden müsse. So wird das Schweigen ein selbstauferlegtes Schweigen, in dem die Menschen verleitet sind zu meinen, dass es tatsächlich inopportun sei, für den Aufbau Europas einen solchen Gottesbezug oder einen Bezug auf das Christentum in der Verfassung zu haben, und sei er auch nur symbolisch. Diese Überzeugung überrascht nicht wirklich, weil sie Teil der Orthodoxie ist, des Dogmas, das unsere juristischen Fakultäten und unsere Fachbereiche für Öffentliches Recht beherrscht, und das Niederschlag in unserem öffentlichen Leben findet. (Fs)

87c Der zweite Grund ist, wenn ich nicht irre, tückischer. Es gibt nämlich auch eine Verinnerlichung anderer Art. In einigen unserer europäischen Mitgliedstaaten zieht man eine Unterscheidung im Binnenbereich der akademischen Welt zwischen Freien Universitäten und Universitäten (die nicht frei sind). So gibt es beispielsweise die Universität Brüssel und die Freie Universität Brüssel. In einigen Ländern ist der Begriff "frei" eine konventionelle Art, um "nicht-katholisch" oder "nicht-christlich" auszudrücken. In einigen Satzungen sind die Professoren, die Mitglied einer Fakultät an einer dieser Freien Universitäten werden, gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, mit der sie sich verpflichten, "freie" Denker zu sein. Ein interessantes Dokument ist in dieser Hinsicht die "Erklärung über freie Forschung", die die Freie Universität Brüssel ihre Professoren unterschreiben lässt:

Freie Universität Brüssel
Erklärung über freie Forschung
Ich, der Unterzeichnete, erkläre bei meiner Ehre, ein Unterstützer und Anhänger der Freien Forschung [Hervorhebung im Original, Anm.] zu sein, d.h. der uneigennützigen Verfolgung der Wahrheit durch die Wissenschaft, die die Ablehnung jedes Prinzips der Autorität im intellektuellen, philosophischen und moralischen Gebiet impliziert, wie auch die Ablehnung jeder geoffenbarten Wahrheit. Ich erkläre, in Übereinstimmung mit dem oben Gesagten zu handeln. (Fs)
Datum ... Unterschrift ... (Fs) (notabene)

88a Es ist ein erhellender Text, besonders wenn man bedenkt, dass er nicht dem Jahr 1903, sondern 2003 entstammt. Die dieser Praxis zugrundeliegende Idee ist, dass von einem religiösen Blickwinkel aus zu schreiben und zu forschen oder ein praktizierender Christ zu sein, die wissenschaftliche Strenge einer Arbeit kompromittieren könnte. Der Effekt kann in vielen Fällen paradox sein: Gelehrte und Intellektuelle, die sich mit Religion befassen, auch solche, die in katholischen Universitäten arbeiten, unternehmen immense Anstrengungen, um ihre bona fides als "freie Denker" zu beweisen, indem sie jede religiöse Reflexion, Vision oder Sensibilität aus ihren "professionellen" intellektuellen Unternehmungen entfernen (es gibt sogar katholische Universitäten, die es für opportun halten, ihrem Namen die Qualifikation "freie Universität" hinzuzufügen). Manchmal ist in ihren Augen die Nichterfüllung dieser Verhaltensregel sogar ein Scheitern: in der Auseinandersetzung mit den Anderen und mit sich selbst. Viele praktizierende Christen lassen die Amtskirche und ihre persönliche Beziehung zur Kirche außen vor, wenn sie die Universität betreten. (Fs)

89a Sicher ist es möglich, dass die religiösen Überzeugungen einer Person deren wissenschaftliche Arbeit kompromittieren können. Es ist auch möglich, dass dies einem Laizisten passiert, der einer dogmatischen Ideologie anhängt. Die Arbeiten müssen nach den gängigen akademischen und wissenschaftlichen Kriterien beurteilt werden, und nicht ad personam. Vor allem aber gilt es festzuhalten, dass vom Gläubigen vermutet wird, dass er kein freier Denker sei. Schließlich machen sich auch hier oft Ignoranz oder Schubladendenken bemerkbar. Die religiöse Praxis wird als eine ausschließlich spirituelle Erfahrung begriffen, während das reiche intellektuelle Substrat der christlichen Lehre unerforscht bleibt oder beiseite geschoben wird. (Fs)

89b Und der dritte Grund ist, dass auch jener, der die Verwechslung von Neutralität und Laizität, zwischen "freiem Denken" und Säkularität nicht vollständig verinnerlicht hat, gelegentlich Angst um seine Karriere hat. Wenn es sich um beamtete Universitätsangehörige handelt, fest und sicher auf ihrer akademischen Stelle, kann diese Angst auch einfach Konformismus oder geradezu Feigheit sein. Aber für die vielen jungen, die publizieren wollen, um Karriere zu machen, ist die Angst, das muss gesagt werden, bisweilen berechtigt. (Fs)

89c Das christliche Ghetto? Christliches Denken und europäische Integration scheinen sich in zwei Sphären zu bewegen, die sich gegenseitig ausschließen. Das Christentum tritt nicht ins Blickfeld der europäischen Integration, und Europa, wie es scheint, tritt in keiner signifikanten Form ins christliche Blickfeld. (Fs) (notabene)

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