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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; Christophobie: 8 Argumente

Kurzinhalt: Ich möchte dieses Phänomen der Entfernung des Christentums aus den Verfassungstexten der Europäischen Union "Christophobie" nennen, ... 3. Die Aversion gegen das Christentum hat auch ideologischpsychologische Motive.

Textausschnitt: 75b Die vorangegangene verfassungsrechtliche Analyse könnte an ein Plädoyer vor Gericht erinnern, vielleicht auch vor dem Gericht der öffentlichen Meinung - als Kritik am Ausschluss eines Bezugs auf Gott oder das Christentum im Text, den der Konvent zur Zukunft Europas vorgeschlagen hat. Aber das Thema hat für mich, wie ich bereits angedeutet habe, eine Bedeutung, die weit über diese juristisch-politische Gelenkstelle hinausgeht. In der Tat spiegelt die Verfassungsdebatte in sehr bezeichnender Weise nicht nur die juristisch-verfassungsrechtliche Frage des Verhältnisses Staat - Kirche wider, sondern vielmehr die kulturelle, soziale und politische Frage des Verhältnisses Kirche - Gesellschaft - Staat im Europa des fin-de-siècle. Der Widerstand, auf den die Aufnahme des Gottesbezuges gestoßen ist, lässt sich nicht allein oder auch nur hauptsächlich als Ergebnis einer objektiven verfassungsrechtlichen Analyse erklären, wie jener, von der ich im vorangehenden Abschnitt ein Beispiel gegeben habe. Er findet seine Erklärung hingegen auf der Grundlage anderer Faktoren, denen gegenüber meiner Meinung nach das verfassungsrechtliche Argument nur ein Vorwand war. (Fs)

76a Der Ausgangspunkt muss hier der Konvent sein, der die Grundrechtscharta ausgearbeitet hat. Der am Ende vorgeschlagene Kompromiss ging dahin, einen Bezug auf die religiöse Überlieferung Europas aufzunehmen. Aber sogar diese eher schmerzlindernde Formulierung wurde als inakzeptabel zurückgewiesen. Für diese Ablehnung konnte es wirklich keine ernsthaften verfassungsrechtlichen Gründe geben. Der Beweis kam einige Jahre später, als der Konvent, der den Verfassungsentwurf vorbereitete, diesen Bezug aufnehmen wollte. Wenn man nun die relative Schwäche der verfassungsrechtlichen Argumentation mit der Heftigkeit der Opposition gegen jeden ausdrücklichen Bezug auf Gott (wie wir ihn zum Beispiel in der deutschen oder in der polnischen Verfassung finden) oder auf das Christentum (wie in der griechischen, irischen, dänischen, maltesischen und natürlich auch in der ungeschriebenen Verfassung Großbritanniens) vergleicht, fühlt man sich gedrängt, nach anderen Motiven zu suchen, um die Positionen erklären zu können, die am Ende in den beiden Konventen die Oberhand gewonnen haben. (Fs)

76b Ich möchte dieses Phänomen der Entfernung des Christentums aus den Verfassungstexten der Europäischen Union "Christophobie" nennen, ein allgemeiner Begriff, mit dem ich eine Form des Widerstandes andeuten will, der sich nicht aus prinzipiellen verfassungsrechtlichen Gründen ableitet, sondern aus Motiven soziologischer, psychologischer und emotionaler Art. (Fs)

76c Meines Erachtens gibt es ein Gewebe von Gründen, die mit unterschiedlicher Intensität in den verschiedenen sozialen Segmenten, und besonders unter den meinungsbildenden Eliten, gewirkt haben. (Fs)

1. Unter den Motiven für das Schweigen über die Religion gibt es eine (nicht zweitrangige) Komponente christlicher Schuld, die sich speziell der Gemeinschaft der Gläubigen zuschreiben lässt. Ein Teil dieser Schuld ist wiederum mit dem Holocaust verbunden. Nach dem eher tendenziösen Werk von Hochhuth, "Der Stellvertreter" von 1963, ist eine Art Hexenjagd gegen den Vatikan und gegen die katholische Kirche zur Mode geworden und hat, bisweilen verleumderisch, ein Ansehen beschädigt, das, obschon nicht ohne schweren Makel, berechtigter- und angemessenerweise in der unmittelbaren Nachkriegszeit von den Überlebenden anerkannt worden ist. Trotzdem gibt es im Verhalten des protestantischen wie des katholischen Klerus während des Krieges vieles, das heute die Christen tief enttäuscht (was für sie spricht), und jeden Versuch bremst, anderen religiösen Minderheiten die Tore zu öffnen. (Fs)

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2. Die christliche Schuld ist nicht nur mit dem Holocaust verbunden. Bedenkt man unsere gewachsene Sensibilität für die Toleranz gegenüber den Anderen, so gibt es viel in der Geschichte des Abendlandes, das heute abstoßend und beschämend wirkt. In den Medien, in der Literatur, in der Politik existiert eine ganze Generation von Meisterdenkern, die heute fünfzig oder sechzig Jahre alt sind, die Generation der Politiker, die jetzt an der Macht sind, von Straw bis zu Fischer und anderen derselben Generation, die in Opposition zum klassischen "Abendland" erzogen worden sind und so ihre "Rebellion" gegen die Exzesse des Kapitalismus, des Imperialismus und anderer "Ismen" geführt haben. Es gibt eine nicht ganz falsche Identifizierung des Gedankens der abendländischen Kultur mit dem Christentum. Einige, vor allem von der Linken, verstehen die Kirche und das Christentum selbst als integralen Bestandteil der Welt, gegen die sie gekämpft haben, und empfinden wahre und wirkliche Feindschaft. Andere assoziieren Kirche und Christentum weniger mit jener Sicht der Welt, und auch ohne (direkte) Feindschaft zu verspüren, schämen sie sich in gewisser Weise der Kirche und des Christentums und lassen sich von jeder Form der Militanz entmutigen. (Fs)

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3. Die Aversion gegen das Christentum hat auch ideologischpsychologische Motive. Für viele, die einer bestimmten Generation angehören, ist der Zusammenbruch des Kommunismus eine existentielle Enttäuschung gewesen, eine demütigende Niederlage, die einen tiefen inneren Riss bei dem hinterlassen hat, der an jene Verheißung von Emanzipation glaubte. Daher gibt es ein ganz natürliches und verständliches Ressentiment gegenüber jenem, der als der "Feind" erscheint, gegenüber dem, was als eine Art christlicher Triumphalismus empfunden werden könnte ("Wir haben es euch ja gesagt"), und - auch auf der Ebene des Unbewussten - gegenüber der Figur des Papstes: nicht nur, weil er institutionell gerade das Wertsystem vertritt, das offenbar als Sieger aus diesem ideologischen Konflikt hervorgegangen ist, sondern auch wegen seiner mutigen Rolle, die er persönlich beim Zusammenbruch des Sowjetreiches gespielt hat. (Fs)

4. Dann gibt es natürlich die eigentliche politische Praxis, die der Parteien und Wahlen. In den fünfziger Jahren war die christliche Erfahrung für viele ein wenig spirituelles Umfeld: Der christliche Glaube übersetzte sich tatsächlich in eine Treue zu politischen Parteien wie die Democrazia Cristiana in Italien und ähnlichen Parteien in anderen europäischen Ländern. Alle Energie und praktisch alle Bedeutung der religiösen Entscheidung erschöpften sich in der Opposition zum Kommunismus und im Bemühen, Stimmen fur "nahe" Parteien zu sammeln. Für die Generation, die diese Erfahrung gemacht hat, ist es schwer, heute die Haltung völlig zu ändern. Für viele sind Kirche und Christen nur eine Art politischer Kraft, die durch das Vokabular des Evangeliums Machtpositionen verfolgt. Oft gibt es in der antireligiösen Opposition eine Art Verbissenheit, die gerade aus der Vorstellung erwächst, die Kirche und die Glaubenden selbst seien Krypto-Politiker. (Fs)

5. Ein weiterer Aspekt, den es bewusst zu halten gilt, ist die augenblickliche rohe, blinde und instinktive Feindschaft zwischen Links und Rechts. In dieser Arena geht es nicht um verfassungsrechtliche Sensibilität oder Verfassungsmäßigkeit und auch nicht um Respekt für die Anderen. Vielmehr handelt es sich um die gewohnten Wahlkämpfe. In ihnen ist, zumindest in einigen Mitgliedstaaten, das Christentum, wenn es sich im öffentlichen Raum manifestiert, traditionell mit dem Mitte-Rechts-Lager verbunden. Die bezeichnendste Wasserscheide in diesem Zusammenhang ist die zwischen politischen Systemen, zwischen vornehmlich auf Konsens angelegten politischen Systemen und vornehmlich auf Konkurrenz ausgerichteten, in denen am Ende allein der Sieger bestimmt. In Ländern, denen Konsens-Vereinbarungen fremd sind, begegnet einem der Widerstand gegen die religiöse und christliche Verfassungssymbolik als politischer Instinkt. Teil des Tagesgeschäfts ist es, das Christentum gewissermaßen als politischen Gegner zu betrachten, gegen den man einfach Opposition zu machen hat. (Fs)

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6. Interessanter in der psychologischen und soziologischen Phänomenologie der Christophobie ist die Haltung gegenüber der Kirche bei denjenigen, die engagiert, weniger engagiert oder fernstehend sind, beim Befolgen der aktuellen christlichen Lehre. Bedenken sie das folgende Paradox. In einer Epoche, die vom Kult der celebrities charakterisiert ist, in der Persönlichkeiten wie Madonna (die nach Ansicht mancher singen kann) oder David Beckham (der nach Ansicht mancher Fußball spielen kann) Stadien und Parks mit Hunderttausenden von Zuschauern füllen können, auf eine Weise, von der Politiker nicht einmal träumen können, stellt sich der Papst auf eine ganz andere Ebene. Er zieht buchstäblich Millionen von Menschen an (und in seinem Fall handelt es sich nicht um Unterhaltung). Und dennoch ist seine Lehre, unbeschadet dieses Erfolges, oft Quelle echter Feindschaft. Die kontroversesten Aspekte sind die Sexualethik und Geschlechterrollen. Die Fragen sind hinreichend bekannt: Abtreibung, Frauenpriestertum, Homosexualität, Verhütung (im Zeitalter von AIDS) usw. All dies stellt, in den Augen einiger engagierter Glaubender, einen "Verrat" am 2. Vatikanischen Konzil dar. Und ihre Gefühle können sehr stark sein. Die weniger Engagierten hingegen fuhren (nicht sehr glaubwürdig, wie mir scheint) diese Linie des Papstes oft als Grund für ihren Mangel an Engagement an. Bei den Nichtaktiven wird sie leicht zum Gegenstand feindlicher Äußerungen oder sogar von Beschimpfungen in der Auseinandersetzung mit etwas, das eine reaktionäre, konservative, traditionalistische soziale Kraft zu sein scheint. Ich möchte hier nicht auf die Berechtigung solcher Argumentationen eingehen, sondern einfach das Phänomen registrieren, jenen bezeichnenden Aspekt von gegenwärtig in Europa existierenden Haltungen zur Kirche. (Fs)

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7. Man kann nicht leugnen, dass die Kirche, auch nur als institutionelle Wirklichkeit verstanden, abgesehen von ihrer Rolle als Hüterin der christlichen Lehre, in der Vergangenheit mit Blick auf die Moderne und andere Erscheinungen Positionen hatte, die sich deutlich von jenen unterscheiden, die ihre augenblickliche Praxis und die jüngste Reflexion charakterisieren. Und auch das löst Christophobie aus. In der europäischen Bildung, am italienischen liceo wie am französischen lycée oder am deutschen Gymnasium, existiert eine Art sozio-kulturelle Prämisse, die im Erbe der französischen Revolution verankert ist: Im kollektiven Bewusstsein ist die Überzeugung tief verwurzelt, dass der soziale und wissenschaftliche Fortschritt nicht nur dank dieser Prämisse garantiert worden sei, sondern geradezu eine Errungenschaft darstelle, die historisch kraft eines Gegensatzes zur Kirche erlangt worden sei. Auch viele Glaubende haben diese Vorstellung verinnerlicht und leben mit einem Widerspruch zwischen ihrem Glauben und ihrem historischkulturellen Bewusstsein: eine innere Spaltung, die offenbar zu den symptomatischsten Aspekten der Moderne und der Postmoderne gehört. Dies bringt bisweilen eine Feindschaft gegen die Religion selbst hervor, gegen jede Religion, als per se reaktionäres und illiberales Faktum. Bedenken Sie, dass ein bekannter Verlag, dem ich das Vorwort dieses Buches mit Blick auf eine eventuelle Veröffentlichung zur Ansicht gegeben habe, meine Anfrage - ohne die Bitte, den ganzen Essay lesen zu können -"in aller Offenheit" mit den Worten abgelehnt hat, dass "sich das Projekt in einer Weise darstellt, die sehr weit von der politisch-editorischen Orientierung des Verlags" entfernt sei. Res ipsa loquitur. Glücklicherweise gibt es andere, die aufgeklärter sind. Hier wäre anzufügen, dass die Bejahung der christlichen Symbolik häufig gleichfalls automatisch erscheint, undurchdacht, und aus einem analogen gegenteiligen politischen Instinkt resultiert, der seinerseits Teil des normalen Alltagsgeschäftes ist. Ich stelle mir vor, dass Verlage mit einer anderen politisch-editorischen Linie auf gleiche Weise ein Buchprojekt mit dem Titel "Ein sozialistisches Europa" ablehnen würden, ohne es ganz zu lesen. (Fs)

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8. Schließlich gibt es die private, persönliche Dimension. Man kann vom einen Ende Europas zum anderen und vom einen Ende der christlichen Welt zum anderen nicht den Generationenunterschied übersehen: Mit Blick auf das herrschende Bild wenig aufrichtiger religiöser Praxis und leerer Kirchen ist die Gruppe, die sich dieser Tendenz am meisten entgegenstellt, die Jugend. Für sie scheint das Christentum heute für die authentische "Revolution" zu stehen: eine Herausforderung, die anzieht, gerade weil sie "anspruchsvoll" ist, nicht leicht, ein Gegenstrom. Viele Jugendliche von heute nehmen die christliche Botschaft mit demselben radikalen und "militanten" Geist auf, mit dem sich die Generation ihrer Eltern dem Protest gegen jede Autorität und Institution, besonders gegen die Kirche, gewidmet hat. Die einflussreichen Vordenker der Generation, die ich oben erwähnt habe, der jetzt Fünfzig- oder Sechzigjährigen, lassen sich dagegen nicht auf dieses erneute religiöse Engagement ein. Ein Teil der Christophobie - dies habe ich in vielen Gesprächen mit Freunden bestätigt gefunden, die christlicher Herkunft sind, sich aber vom Glauben entfernt haben - geht sicherlich auf die Erbschaft an persönlicher religiöser Erfahrung zurück, die diese Generation in den Jahren ihrer Jugend erlebt hat. Dies hat nichts unmittelbar mit der Ideologie zu tun. Die Kirche der fünfziger und sechziger Jahre war nach der persönlichen Erfahrung vieler sehr klerikal, institutionalisiert, autoritär. Sie war wie die Schule, die Eltern; sie spiegelte ein nicht verinnerlichtes Ensemble von Pflichten wider, zusammengehalten durch die beständige Erinnerung an das Beichten "unkeuscher Handlungen" und ähnlicher Dinge. Man konnte es kaum erwarten, sich zu befreien. In den Filmen aus dieser Zeit sind Priester und Bischof oft als perfekt integrierte Angehörige des Establishments gezeichnet, gegen das man kämpfen musste, oder als Gegenstand von Ironie und Spott. Ich glaube, dass diese Erfahrung verallgemeinerbar ist, natürlich mit vielen Ausnahmen. Eine Folge dessen ist, dass man eine gewisse Dosis von Ressentiment und Abneigung mitgebracht hat. Aber es gibt noch eine viel tiefergehende Folge: ein Verlust des Interesses. Bei der Abfassung dieses Buches habe ich meine nichtpraktizierenden katholischen Freunde unzählige Male sagen hören: Jetzt werde ich dir mal was über die Kirche erzählen." Oder: "Ich weiß schon alles über das Christentum." Was sie allerdings darüber wussten, waren nur die Krumen aus der Kindheit, die unangenehmen Erinnerungen, was ihnen von Firmung und Katechismus geblieben war. Tatsächlich wussten sie oft wenig oder nichts von den letzten fünfundzwanzig Jahren des Lebens der Kirche. Bezeichnenderweise schien es in ihrer Vorstellung von der Selbstbildung gebildeter Menschen nicht wichtig zu sein, sich über die Lehre der Kirche auf dem Laufenden zu halten. Man konnte sich vornehmen, das letzte Buch von Derrida oder Fukuyama oder Eco zu lesen (oder wenigstens die Rezension ...), aber niemand dachte auch nur daran, die letzte Enzyklika des Papstes lesen zu sollen. Ein christliches Europa? Warum? Sind wir etwa gegen die Verhütung? Geht es etwa nicht darum?

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