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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; kein Bezug auf das Christentum: verfassungsrechtlichen Analyse; Einmaleins des vergleichenden Verfassungsrechts

Kurzinhalt: Das Prinzip des agnostischen Staates gilt nur im Feld der positiven Grundrechte. Auf der Ebene von Symbolik und Ikonographie sind im europäischen Verfassungsraum Staaten akzeptabel und normal, die alles andere als agnostisch sind.

Textausschnitt: III. DAS VERFASSUNGSRECHTLICHE ARGUMENT

36b Die Vorstellung, wenn man die verfassungsrechtlichen Werte respektieren wolle, sei es schlechthin unmöglich, einen Bezug auf das Christentum oder einen Gottesbezug in die Präambel der Grundrechtscharta oder in den Entwurf einer europäischen Verfassung aufzunehmen, ist verbreitet. Nach dieser Vorstellung soll die gesellschaftliche Akzeptanz von Werten, nach denen ein solcher Bezug in beiden Präambeln ausgeschlossen sei, verfassungsrechtlich determiniert sein. Meines Erachtens liegt dem ein Sehfehler zugrunde. Es mag sein, dass sich dies im nationalstaatlichen Kontext so verhält, etwa im italienischen. Aber für den Kontext der europäischen Verfassung glaube ich, dass der Bezug auf Gott und das Christentum oder die Religion nicht nur nicht ausgeschlossen werden kann, sondern sogar unentbehrlich ist. Dies ist wohlgemerkt kein Ausdruck meiner religiösen Präferenz und auch nicht meiner Meinung darüber, was für Europa besser wäre. Vielmehr ist es das Ergebnis meiner verfassungsrechtlichen Analyse; und es ist offenbar gerade das, was das europäische Verfassungsrecht fordert. (Fs)

37a Um zu begründen, wie ich zu dieser Schlussfolgerung komme, müssen wir einen Exkurs ins kleine Einmaleins des vergleichenden Verfassungsrechts machen. Jede Verfassung erfüllt normalerweise eine Mehrzahl von Funktionen. Drei sind fast immer dabei. Die erste ist die Funktion der Organisation der Gewalten des Staates und der Teilung der institutionellen Kompetenzen. Sie gibt in unseren freiheitlichen Demokratien typi-scherweise die Unterscheidung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative vor. So definiert die Verfassung beispielsweise die Kompetenzen des Parlaments, regelt die Beziehungen zwischen Parlament als Legislative und Regierung als Exekutive, benennt die Funktionen und Kompetenzen des Staatsoberhauptes usw. Die zweite Funktion ist die der Definition und normativer Qualifikation der Beziehungen zwischen Individuen und öffentlichen Stellen. Es handelt sich um ein sehr weites Feld, zu dem zum Beispiel auch die Pflichten und Verantwortlichkeiten eines jeden Bürgers gehören, etwa der Beitrag zur Verteidigung oder zu den öffentlichen Ausgaben. Seinen bildhaftesten und bezeichnendsten Ausdruck findet diese Funktion jedoch in den Katalogen der Grundrechte, wie sie den "langen" Verfassungen des zwanzigsten Jahrhunderts eigen sind. Sie definieren ein Bündel von unverletzlichen Rechten und Freiheiten, die die Bürger (Individuen oder Zusammenschlüsse) gegen den Staat geltend machen können (wenn auch nicht ausschließlich), und die anzuerkennen, zu respektieren und zu fördern sich der Staat seinerseits bei der Entfaltung seiner Tätigkeit und bei der Ausübung aller seiner Gewalten verpflichtet. So genießen beispielsweise Rechte wie die Gedankenfreiheit oder das Wahlrecht oder das Recht auf Gesundheit auf Verfassungsebene Schutz. Diese beiden Verfassungsfunktionen manifestieren sich im positiven Recht, wie es von der Verfassung gebildet wird, die sich an der Spitze der staatlichen Normhierarchie befindet. (Fs)

38a Dann ist da noch eine dritte, nicht weniger wichtige, wenn auch manchmal schwerer zu fassende Funktion. Die Verfassung ist auch eine Art von Depot, das Werte, Ideale und Symbole, die in einer Gesellschaft geteilt werden, widerspiegelt und schützt. Sie ist daher ein Spiegel dieser Gesellschaft, essenzieller Teil ihrer Selbstwahrnehmung, und spielt eine grundlegende Rolle in der Bestimmung der nationalen, kulturellen und wertbezogenen Identität des Volkes, das sie verabschiedet hat. Diese dritte Funktion mag implizit sein, d. h. sich indirekt aus den normativen Gehalten ableiten lassen, die die anderen beiden Funktionen hervorbringen. Zum Beispiel ist klar, dass man aus der Art, in der in einer Verfassung die öffentlichen Aufgaben im Verhältnis zwischen Regierung und Kommunen organisiert und verteilt werden, ersehen kann, ob diese Verfassung ein eher föderalistisches oder - im Gegenteil - zentralistisches Ethos hat. In gleicher Weise drücken die Grundrechtskataloge in den Verfassungen das Ethos der Gemeinschaften aus, die sie formuliert haben. Der Parmenser Philosoph Palombella nimmt diesen Punkt in seinem Buch "L'autorità dei diritti" sehr genau. Die Grundrechte sind ein System von Wertannahmen, Vehikel von bestimmten ethischen Entscheidungen, und daher ein normatives und trennscharfes Kriterium, um die Rechtmäßigkeit von institutionellem Verhalten zu messen. Aber in einem besonders glücklichen Ausdruck spricht Palombello zu Recht davon, dass sie viel mehr als das sind: "Die Grundrechte erklären, worauf sich eine Gemeinschaft gründet." Genau so ist es. (Fs)

38b Auch die ersten beiden Verfassungsfunktionen können daher indirekt die ethischen, wertmäßigen Entscheidungen einer bestimmten Nation zum Ausdruck bringen, die Prioritäten und die Ziele, die ein Staat als unverzichtbar ansieht, und von denen her er sein Handeln inspirieren will. Aber einige Verfassungen versuchen, auch diese dritte Funktion zu explizieren, und machen dies vor allem durch die Präambeln. Die Präambeln stellen oft den feierlichen Versuch dar, genau diese Aspekte der Identität zu artikulieren. (Fs)

39a Die ersten beiden Verfassungsfunktionen sind unverzichtbar. Ich kenne keine moderne europäische Verfassung, die diese Funktionen nicht erfüllen würde. Die dritte Funktion ist mindestens implizit stets gegenwärtig. Jede Verfassung, auch in ihren technischsten Abschnitten, bringt etwas Tiefes über das Volk zum Ausdruck, das sie verabschiedet hat. Aber dies muss nicht explizit geschehen. Es gibt Verfassungen, wie zum Beispiel die niederländische, die österreichische, die italienische, die belgische, die finnische, die dänische, die schwedische oder die griechische, in denen die Präambel sehr kurz und formal ist oder gar fehlt. Diese Entscheidung ist vollkommen legitim. (Fs)

39b Die Europäische Grundrechtscharta und der Entwurf für eine europäische Verfassung hätten die minimalistisch-funktionalistische Methode wählen können: Sie hätten sich auf die ersten beiden Funktionen konzentrieren und den Lesern die Aufgabe überlassen können, die Identitäts- und Wertelemente, die implizit in den Strukturentscheidungen enthalten sind, zu definieren und zu artikulieren. Beide Dokumente hingegen spiegeln eine ganz andere Wahl wider. Beide enthalten majestätische Präambeln, die in sehr bewusster, durchdachter, empfundener, überlegter Weise versuchen, die konzeptionellen Grundlagen des positiven Rechts, das folgt, zu explizieren, und eine Art Telos und Ethos (was Europa sein will und was es ist) zu umreißen, das die darauffolgenden Vorschriften gestaltet. (Fs)

39c Auch dies ist eine ganz und gar legitime Entscheidung. Zu Beginn der Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten hat der Supreme Court in einem seiner berühmten Urteile bekräftigt: Denkt daran, es ist eine Verfassung, die wir auslegen! Hier in Europa hingegen, wo die sprachliche, kulturelle und soziale Vielfalt unter den Mitgliedstaaten viel akzentuierter ist als jene, die ursprünglich zwischen den amerikanischen Staaten herrschte, muss unser verfassungsrechtliches Motto sein: Denkt daran, es ist eine europäische Verfassung, die wir entwerfen! Eine verfassungsrechtliche Konstruktion, die auch die verfassungsrechtliche Vielfalt der europäischen Völker widerspiegeln muss. (Fs)

40a Der Umstand, dass es sich um eine Grundrechtscharta der Europäischen Union und um den Entwurf einer Verfassung für Europa handelt, erlaubt nicht die gleiche Freiheit, über die die Verfassungsväter einer Nation verfügen. Dieser Umstand erfordert eine gewisse Disziplin. Die Tatsache, dass es um eine Verfassung für Europa geht ("in Vielfalt geeint"), bedeutet, dass sie europäisch sein muss. Daher sind der Konvent zur Zukunft Europas und die Regierungskonferenz keine absoluten Souveräne, wenn es darum geht, die Symbolordnung der europäischen Verfassung zu artikulieren. Auch sie müssen, unbeschadet der Legitimation, die sie genießen, oder vielleicht gerade dank einer solchen Legitimation, den optimalen Weg suchen, um die Hauptlinien der den verschiedenen Mitgliedstaaten eigenen Wertsymbolik zusammenzufassen. Ich glaube nicht, formalistisch zu sein, wenn ich auf der Behauptung bestehe, dass auch die nationalen Parlamente bei der möglichen Zustimmung zum Entwurf einer europäischen Verfassung keine absoluten Souveräne sind: Auch sie müssen ihre eigene Verfassungs- und Werteordnung beachten und der Versuchung widerstehen, wichtige Ausdrucksformen der Verfassungssymbolik anderer Mitgliedstaaten auszuschließen. (Fs)

40b Schauen wir also, welchen Platz die Religion im verfassungsrechtlichen Panorama der europäischen Staaten einnimmt, und versuchen wir dies auf eine Art, die gleichzeitig interessant und verständlich für Leser ist, die keine Verfassungsrechtler sind. Immerhin geht es um Fragen, die zu wichtig sind, als dass man sie in den Händen der Juristen lassen könnte. (Fs)

41a An erster Stelle steht eine klassische, auch verfassungsrechtliche Diskussion über die Religionsfreiheit als Prinzip des positiven Verfassungsrechts. Hier scheint ein breiter Konsens zu herrschen. Der verfassungsrechtliche Ausgangspunkt dieser Diskussion in Europa (und anderswo) ist der, den ich die "Prämisse vom agnostischen Staat" nennen möchte: die gemeinsame Überzeugung, dass die Verfassungsordnung sowohl die Freiheit zur Religion als auch die Freiheit von der Religion schützen muss. Im Bereich der (in weitem Sinne verstandenen) europäischen Verfassungsordnung zu leben, bedeutet, in einem Rechtsraum zu leben, der den Gläubigen die Freiheit garantiert, ihre Religion auszuüben, und den Nichtglaubenden die Freiheit, sich jeder Form religiösen Zwanges entziehen zu können. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union teilen, unter dem Schirm der Europäischen Menschenrechtskonvention, diese verfassungsrechtliche Prämisse. (Fs)

41b Hier müssen wir einen kleinen Umweg machen, um dann erneut auf die Hauptstraße zu biegen. Unbeschadet dieses breiten Konsenses findet sich Europa in der Art, wie die verschiedenen Staaten diese verfassungsrechtliche Prämisse anwenden, erneut von der Vielfalt charakterisiert. Erstens gibt es Fälle, in denen die Grenzen unklar sind (und die daher den Juristen gefallen): Was ist für die Zwecke des verfassungsrechtlichen Schutzes als Religion zu betrachten? Muss beispielsweise Scientology als Religion anerkannt werden, die in den Genuss dieser Gewährleistungen kommt? Die verschiedenen europäischen Verfassungsgerichte können, obwohl sie die Prämisse vom agnostischen Staat im Bereich des positiven Rechts teilen, in dieser Frage divergieren. Darüber hinaus gibt es sowohl in diesem Fall als auch bei anderen verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechten Grenzen. Wenn eine als solche anerkannte Religion Menschenopfer von ihren Jüngern fordern würde, könnten wir sicherlich nicht im Namen der Religionsfreiheit das Recht auf diesen Ritus garantieren (auch nicht, wenn die dafür bestimmte Person dem eigenen Opfer zustimmen würde). Manchmal mögen die Grenzen nicht ganz klar sein. Wenn sich zum Beispiel herausstellte, dass das rituelle jüdische Schächten (koscher) oder das islamische (hallal) für die Tiere grausam wäre -eine breit diskutierte Frage -, wäre es dann möglich, es zu verbieten, oder würde die Religionsfreiheit vorgehen? Wir sind uns alle der Schwierigkeiten ähnlicher Entscheidungen bewusst, beispielsweise mit Blick auf das islamische Kopftuch oder auf den Turban der Sikhs. Gibt es ein übergeordnetes Interesse des Staates, das das Verbot rechtfertigt, solche Kopftücher in öffentlichen Schulen zu tragen (wie es die Religion vorschreibt), oder jene Turbane der Sikh-Polizisten? Erneut können verschiedene Verfassungsgerichte, obwohl sie die verfassungsrechtliche Prämisse der Freiheit zur Religion und der Freiheit von der Religion teilen, zu unterschiedlichen Ergebnissen über diese Fragen gelangen. Eines der schwierigsten Probleme, gelegentlich unlösbar, betrifft Vorschriften, die Formen der öffentlichen Moral ausdrücken, welche als Mitgift mit religiöser Grundlage oder religiösem Ursprung wahrgenommen werden können. Die Debatten, die wir in einem Großteil unserer Mitgliedstaaten über die Grenzen der Abtreibung, über Eheschließung und Scheidung und über die rechtliche Anerkennung der Beziehungen zwischen Personen des gleichen Geschlechts erleben, geben ähnlichen Fragen Raum. Kann beispielsweise das Verbot einer Eheschließung zwischen Personen des gleichen Geschlechts als eine Form religiösen Zwangs und insoweit als eine Verletzung der verfassungsrechtlichen Grundprämisse betrachtet werden? Oder kann sie umgekehrt als Ausdruck einer öffentlichen Moral betrachtet werden, vergleichbar zum Beispiel dem Verbot der Polygamie, das in allen unseren Verfassungsrechtssystemen akzeptiert wird? Auch hier sind im Anwendungsbereich der erwähnten verfassungsrechtlichen Prämisse unterschiedliche Antworten möglich. Und nun, nach Ende des Umwegs, können wir auf die Hauptstraße zurückkehren. (Fs)

43a Und Europa? Unabhängig von der Frage, ob Europa eine Verfassung im formellen Sinne annimmt oder nicht, umfasst seine verfassungsrechtliche Architektur schon jene Prämisse. Die Union betrachtet sich als gebunden durch die einschlägigen Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention und durch die Verfassungstraditionen, die seinen Mitgliedstaaten gemeinsam sind; und die Religionsfreiheit gehört zu diesen Traditionen. Art. 10 der Grundrechtscharta und Art. 51 des Verfassungsentwurfs bestätigen diese bereits bestehende Verpflichtung. Wir haben gesehen, dass es trotz der Unterschiede in der Anwendung und der Existenz eines Einschätzungsspielraums, der für einige schwierige Fälle verschiedene Lösungen erlaubt, eine Homogenität im europäischen Verfassungsrecht gibt: Alle unsere Mitgliedstaaten, wie auch die Union selber, sichern ihre Verpflichtung auf die Freiheit zur Religion und auf die Freiheit von der Religion zu. (Fs)

43b Wenden wir uns nun der dritten Verfassungsfunktion zu, jenem Hüter der Werte und wichtigem ikonographischen Symbol bei der Definition der Identität des Staates. Ist es, unbeschadet des Konsenses über die Prämisse vom agnostischen Staat als Prinzip des positiven Rechts, in der europäischen Verfassungstradition erlaubt, beim Versuch, Ethos und Telos der Verfassung zu artikulieren, in der Präambel explizit Bezug auf die Religion, auf Gott, ja auf das Christentum zu nehmen? Dies ist ein verfassungsrechtliches Problem. Versuchen wir durch eine vergleichende Analyse zu sehen, wie die Verfassungspraxis in Europa mit Blick auf dieses Problem aussieht. (Fs)

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