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Autor: Sertillanges A. D. (Gilbert)

Buch: Der heilige Thomas von Aquin

Titel: Der heilige Summa von Aquin

Stichwort: Sein: das Zuersterkannte (primum cognitum); Pantheismus; Einheit des Seins (analog, äquvik, univik); Transzendentalien; keine Gattung; erste Bestimmungen des Seins: Transzendentalien: Einheit, Wahrheit, Güte

Kurzinhalt: Die Addition zum Sein kann auf eine doppelte Weise geschehn: durch die Analyse der Eigenschaften, die jedem Seienden zukommen, die jedoch das Wort 'Sein' durch sich selbst nicht ausdrückt, und durch die Erforschung der grundlegenden Weisen, durch ...

Textausschnitt: Zweites Kapitel: Die Einteilungen des Seins

14 DA ALSO DIE METAPHYSIK die Wissenschaft vom Sein und den Prinzipien des Seins ist, geht es darum, diesen ersten Begriff zu erfassen. Das Sein, das heißt das, was ist [cujus actus est esse], können wir seinem Wesen nach nicht durch etwas dieser aller ersten Idee Vorangehendes bestimmen. Für die thomistische Schule ist das Sein das zuerst Erkannte [primum cognitum] in dem Sinne, daß vom Geiste nichts - nicht einmal das Nichts selbst - unabhängig von diesem ersten Begriff, der wie ein vages und unbestimmtes Gefäß alle andern Begriffe umschließt und vereinigt, erkannt werden kann1. (40; Fs)

15 Allein auf Grund seiner Allgemeinheit ist ein solcher Begriff, wenn er sich selbst überlassen bleibt, vollständig leer: er drückt nichts 'Unterschiedenes' und darum nichts 'Greifbares' aus. Der antike Pantheismus, der das Sein 'verwirklichen' und doch zugleich seine Allgemeinheit festhalten wollte, ist darum zu der Behauptung gekommen, das Sein sei 'eines'; daher konnte er in der Verschiedenheit der Substanzen und Phänomene nur noch 'Erscheinungen' sehn. In Wirklichkeit ist die Idee des Seins nur eine Art Klammer: einen bestimmten Sinn hat das Sein nur in seinen Arten, das heißt den Kategorien; darum sagt man: das Sein ist ein analoger und kein eindeutiger [univoker] Begriff2. (40; Fs)

16 Eindeutig ist das, was mehreren Dingen in gleicher Weise [secundum eandem rationem]3 zukommt. Zweideutig [äquivok] ist das, was verschiedenen Dingen in völlig verschiedener Weise zu kommt; hier ist nur noch das Wort gemeinsam. Das Analoge ist ein Mittleres, es bedeutet einen wirklich gemeinsamen Begriff und schafft eine wirkliche Beziehung zwischen den Begriffen, die es verknüpft, ohne daß sie indessen an ihm in gleicher Weise teilhaben. (40; Fs; ARKAT_homonym_synonym)

1.29.10.94; eg:
Der antike Pantheismus dachte sich somit Sein als univoken Begriff. Das Sein als das "eine", daß den Dingen in gleicher Weise zukommt. Damit ist gegeben, daß die Verschiedenheiten der Substanzen und Phänomene nur noch Erscheinungen sind.

17 Die Einheit des Seins ist von dieser letzteren Art; sie ist eine Einheit der Analogie: sie umfaßt alles, was man mit Sein bezeichnen kann und was als solches gemeinsame Eigentümlichkeiten und reale Beziehungen hat, ohne deshalb eine reale Einheit unter der es einigenden Klammer zu bilden. (40; Fs)

18 Wenn nun aber das Sein in den verschiedenen Arten seiner Teilnahme 'eines' sein soll, dann müßte man, wenn anders man nicht in den Pantheismus verfallen will, außerhalb seiner jene 'Unterschiede' auffinden, die seine Fülle beschränken und es in die unteren Gattungen und Arten überführen könnten. Allein wo wäre ein Unterschied zu finden, in dem nicht das Sein eingeschlossen wäre, da das Sein transzendent und der allgemeinste Begriff überhaupt ist4? (40f; Fs)

19 Überdies ist die Substanz ein Sein an sich; das Akzidenz ist ein Sein durch sie; es ist mehr das Sein eines Seins [ens entis] als selber Sein, dergestalt, daß es sich nur mit Hilfe der Substanz bestimmen läßt. Wie soll man aber zwei eindeutige Begriffe durch einander bestimmen können, wenn gerade 'eindeutig' [univok] bedeutet, daß zwei Dinge in gleicher Weise ein gemeinsames Merkmal haben? Es liegt also hier eine zweifache Weise des Seins vor, in der man einen transzendentalen Unterschied sehn muß. (41; Fs)

20 Wir stehn hier vor einem ersten negativen Merkmal: Das Sein ist keine Gattung5. Und doch läßt sich nichts begreifen außer durch 'Addition' zu diesem allgemeinen Begriff. Er ist 'das, worin sich all unsere Begriffe auflösen'. Aber wie ist es zu verstehn, daß diese sich aus jenem ableiten, und wie soll man von diesem auf dem Wege der Auflösung [per viam resolutionis] gefundenen allgemeinen Sein auf dem umgekehrten Weg [per viam compositionis] die ganze Wirklichkeit wiederfinden und die Natur gewissermaßen wieder zusammensetzen können? (41; Fs; eg: s. BWAR Nr. 204; Index.ask: BWAR_Gattung_Seiendes)

21 Die Addition zum Sein kann auf eine doppelte Weise geschehn: durch die Analyse der Eigenschaften, die jedem Seienden zukommen, die jedoch das Wort 'Sein' durch sich selbst nicht ausdrückt, und durch die Erforschung der grundlegenden Weisen, durch die sich das Sein in verschiedenen Formen offenbart6. (41; Fs)

22 Der erste Fall nimmt der allgemeinen Idee des Seins nichts von ihrer ersten Allgemeinheit und Transzendenz; sie macht aber nichtsdestoweniger diesen Begriff fruchtbarer, und sie bereichert ihn mit neuen Merkmalen. (41; Fs)

23 Man kann zum Sein etwas hinzufügen, indem man es zunächst - als Wesenheit betrachtet - auf sich selbst bezogen sieht, und dann tritt zum Begriff des Seins der des Dinges hinzu, das heißt dessen, 'was' ist, und das Dasein wird dann dessen Verwirklichung7. (41; Fs)

24 Zweitens aber kann man es in seiner Beziehung zum Nichtsein sehn als dem ihm - mit umgekehrtem Vorzeichen - entsprechenden Begriff, und so entsteht der Begriff des Gegensatzes, die erste Wurzel der transzendentalen Einteilung, und man kommt zum Begriff des 'Etwas' im strengen Sinne von aliquid = aliud quid, der seinerseits - durch einen neuen, ihm entsprechenden Gegensatz verneint - den Begriff der Einheit erzeugt.8 (41f; Fs)

25 Ein Ding als eines ist in der Tat ein in sich Ungeteiltes, das geschieden ist gegenüber allen andern Dingen, so daß also diese drei grundlegenden Begriffe: Ding, Etwas, Ungeteilt zusammen den ersten transzendentalen Begriff darstellen, der aus der Idee des Seins sich ergibt und auf alles anwendbar ist, das heißt den Begriff der Einheit.9 (42; Fs)

26 Drittens kann man das Sein in seiner Beziehung zur Erkenntnis und zu dem der Erkenntnis folgenden Begehren nehmen. Seine Transzendenz bleibt auch hier noch völlig unangetastet; denn die geistige Seele hat, ganz allgemein genommen, Beziehung zu allem, da sie durch die Erkenntnis 'alles werden kann' [quodammodo fit omnia], und das Begehren kann ihr hierin immer folgen. (42; Fs)

27 Man kann also die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung des Seins [und zwar des wirklichen und des möglichen Seins] mit der Erkenntniskraft ins Auge fassen, und dann weiter die Entsprechung oder Nichtentsprechung des Seins und des Begehrungsvermögens. In dem ersten Falle nennt man die Übereinstimmung das Wahre, die Nichtübereinstimmung das Falsche; im zweiten die Entsprechung das Gute und ihr Gegenteil das Böse. (42; Fs)

28 Einheit, Wahrheit und Güte sind also die drei Eigenschaften, die nach unserer Auffassung dem Sein, und zwar dem Sein als solchem vor jeder 'Abstufung' seines Begriffs durch irgendeine Teilung in Kategorien zukommen. Ihr Gegenteil: die Vielheit, der Irrtum und das Böse, gehören hiernach in die Reihe des Nichtseienden. Allein wir müssen diesen Begriff noch vertiefen. (42; Fs)

29 Diese drei 'Eigentümlichkeiten' sind das, was man in der thomistischen Philosophie die Transzendentalien nennt. Man kann zu ihnen noch die Schönheit hinzufügen, von der zwar weniger häufig die Rede ist, die aber trotzdem in dem System ihren genau bestimmten Platz hat. Sie drückt das Sein aus, insoweit es Beziehung zur Erkenntniskraft hat, aber nicht insofern diese einfachhin erkennt - das ist ja das Wahre -, sondern insofern durch die in der Betrachtung sich vollziehende ideale Berührung ein Wohlgefallen geweckt wird, und zwar dadurch, daß das erkennende Wesen [Subjekt] in dem Gegenstand [Objekt] in gewisser Weise sich selber wiederfindet. (42f; Fs)

30 Die Sinneskraft und der Geist sind bestimmt, in den Dingen die Ordnung und den vernünftigen Sinn zu entdecken; darum sind sie selber ihrer Anlage nach Ordnung und Vernunft. Da nun alle Erkenntnis durch eine 'Angleichung' an den Gegenstand zustande kommt10, und infolgedessen das 'Ähnliche' in der Seele, die sich dieser Ähnlichkeit bewußt wird, ein Wohlgefallen zu erwecken vermag, so lösen die Ordnung und der Sinn der Dinge, ihre Wahrheit und Güte, mit einem Wort: ihre 'rechte Beschaffenheit' in dem erkennenden Wesen ein besonderes Gefühl aus, das man das Gefühl der Schönheit nennt11. (43; Fs)

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