Autor: Leppin, Volker Buch: Wilhelm von Ockham Titel: Wilhelm von Ockham Stichwort: Theologie als Wissenschaft; Ockham: mittelbare Evidenz, fides infusa Kurzinhalt: Der entscheidende Unterschied zu den Wissenschaften im strengen Sinne ist lediglich der, dass der letzte Grund für alle Sätze der Theologie ... der eingegossene Glaube ist.
Textausschnitt: 51a Das eigentliche Ziel dieser Überlegungen, die er im Prolog seines Sentenzenkommentars vorträgt, ist nun aber nicht so sehr die philosophische Bestimmung des psychischen Ortes des Glaubens, sondern es geht Ockham um die Frage, ob die Theologie im strengen Sinne als Wissenschaft zu verstehen sei. Diese Frage ist rasch beantwortet: Nein, im strengen Sinne ist sie gewiss keine Wissenschaft für Ockham1, denn strenge Wissenschaft wäre - als das Wissen der aristotelischen Vernunfttugenden - evident2. Eben dies kann die Theologie für Ockham nicht sein, denn ihre entscheidende Wahrheitsfunktion liegt nicht im Wissen, sondern im Glauben.3
51b Man würde aber Ockham weit unterschätzen, wenn man in solchen Überlegungen den Ansatzpunkt für einen Irrationalismus sähe, der alle wissenschaftlichen Standards für die Theologie aufgäbe: Ausführlich legt Ockham dar, welche Fähigkeiten der Theologiestudent im Theologiestudium zu erlernen pflegt. Da ist zum einen eine Vermehrung seines erworbenen Glaubens, d.h., er lernt schlicht mehr über den Inhalt der christliehen Lehre. Darüber hinaus aber erwirbt er auch unzweifelhaft wissenschaftliche Habitus, und zwar sowohl solche, die er auch in anderen Wissenschaften erwerben könnte, als auch solche, die er nur in der Theologie erwerben kann.4 Der Theologe verfügt also durchaus aufgrund seines Studiums über wissenschaftliche Erkenntnisse - über den Gottesbeweis zum Beispiel wird noch zu reden sein -, und Ockham wäre völlig missverstanden, wenn man seine Unterscheidung der Theologie von den anderen Wissenschaften anhand des Evidenzkriteriums als durchgehenden Mangel der Theologie auslegen wollte. Der entscheidende Unterschied zu den Wissenschaften im strengen Sinne ist lediglich der, dass der letzte Grund für alle Sätze der Theologie - für solche, die evident sein können, ebenso wie für solche, die nicht evident sein können - der eingegossene Glaube ist. Und die ganze Bemühung Ockhams um die Einordnung dieses Glaubens in das Schema der Vernunfttugenden sollte zeigen, dass die Funktion der Theologie, aufgrund deren sie letztlich einem Satz zustimmt oder einen Satz ablehnt, in der Tat eine Wahrheitsfunktion im Sinne des christlich zu kritisierenden und zu korrigierenden Aristoteles war. (Fs)
52a Es sind aber nicht nur die einzelnen wissenschaftlichen Sätze, die der Theologie das Recht zusichern, wenigstens in einem weiten Sinne als Wissenschaft angesprochen zu werden. Die Frage, was denn den Theologen vor einfachen, unstudierten Christen auszeichne - deren Repräsentantin ist bei Ockham immer wieder die vetula, das alte Frauchen -, beantwortete Ockham zunächst noch recht vorsichtig: Der Theologe wisse vieles, was die einfachen Christen und Christinnen nicht wüssten.5 Er vermied also eine qualitative Bestimmung des Vorsprungs der Theologen. Gleichwohl legt sich eine solche nahe. Denn was die Theologie bietet ist neben den vielen Einzelsätzen eine logische Durchdringung des Wissensbestandes. Diesen Rationalitätsstandard, der alle Wissenschaften miteinander verbindet, wollte Ockham auch in der Theologie nicht missen. (Fs)
52b Angewandt auf die Überlegungen zur Evidenz, gilt geradezu, dass es in der Theologie zwar nicht in allen Sätzen die unmittelbare Evidenz von Prinzipien gibt wie in anderen Wissenschaften, aber Ockham erhob für die Theologie sehr wohl den Anspruch einer mittelbaren Evidenz6: Hat man erst einmal die Prinzipien, auf denen die Theologie gründet, so wird man hieraus logische Schlüsse zu ziehen haben, deren Qualität auch nach den Regeln der Logik bemessen werden kann. Der Theologe benutzt also kein anderes Verfahren als die anderen Wissenschaftler, und dieses Verfahren muss er akademisch erlernt haben. (Fs)
53a Er wendet die gemeinsam verbindlichen logischen Verfahren jedoch auf eine andere Art von Sätzen an. Nicht die Prinzipien, die die anderen Wissenschaften aus der Vernunft oder aus der Erfahrung schöpfen, liegen dem wissenschaftlichen Schlussverfahren in der Theologie zugrunde7, sondern autoritative Sätze, vor allem aus der Heiligen Schrift8, aber auch Verlautbarungen der Kirche und Aussagen der Heiligen9 - zwischen diesen verschiedenen Autoritäten sieht Ockham keinerlei grundsätzlichen Widerspruch aufbrechen, sondern letztlich fließen die Wahrheiten von Kirche und Heiligen aus der Heiligen Schrift selbst. Diese geistig aus der Auseinandersetzung mit dem konsequenten Aristotelismus erklärbare Betonung der Prinzipienrolle der Heiligen Schrift gewinnt ihr eigentliches Profil erst aus der Zeitgenossenschaft Ockhams zu den Streitigkeiten um den Status der Theologie an der Universität Oxford: In dem neuen Statut von 1311 war es ja gerade darum gegangen, die Reihenfolge von Sentenzenvorlesung und Bibelvorlesung in dem Sinne festzulegen, dass stets die erste Vorlesung, die ein Nachwuchstheologe zu halten hatte, die Sentenzenvorlesung sei und die Bibelvorlesung dann erst folge.10 Die Dominikaner hatten dem, wie erwähnt, entgegengehalten, dies pervertiere die Reihenfolge der Lehre - und eben diese polemische Aussage stützte Ockham, der Franziskaner, nun theoretisch. In der Tat machte sein theologisches Modell es geradezu unausweichlich, die Bibel der Sentenzenvorlesung voranzustellen, denn die nicht-pervertierte Reihenfolge einer Wissenschaft, ob im strengen oder im weiten Sinne, musste ja mit den Prinzipien beginnen und konnte die Folgerungen erst danach behandeln. Die Stellung der Bibel als Wissenschaftsprinzip musste also, institutionalisiert gedacht, zu einer Vorordnung der Bibelvorlesung vor die dogmatische führen. Ockham selbst hatte diese institutionelle Folgerung nicht gezogen, ja, der Bezug auf die aktuellen Streitigkeiten an seiner Universität erscheint mit keiner Silbe in seiner Vorlesung. Was er auf dem Katheder trieb, scheint pure Theorie, Bewältigung jener denkerischen Aufgaben, die der konsequente Aristotelismus und seine Verurteilung den nachfolgenden Generationen gestellt hatten. Doch schwer auszudenken, dass seine Hörer nicht mehr gehört hätten als diese bloße Theorie, schwer auszumalen, dass in einem mendikantischen Kontext, in dem der Alltag in der oben beschriebenen Weise von den universitätspolitischen Konflikten in Mitleidenschaft gezogen war, nicht auch mitgeklungen hätte, was Ockham, wenn er es denn nicht ausdrücklich gesagt hatte, doch zu den Inhalten des Streites hätte sagen müssen. Nur wer die scholastische Philosophie und Theologie in jenem Elfenbeinturm ansiedelt, in den Humanismus und Reformation sie zu verbannen suchten, wird Ockhams Aussagen zu theoretischen Konstrukten entkontextualisieren. Liest man sie in ihrem Kontext, so entfalten sie eine Brisanz, die auch verstehbar macht, warum es ihrem Autor später gelingen konnte, in noch viel brisanteren Kontexten deutlich und prononciert Stellung zu beziehen. Als Ockham in seiner zweiten Lebenshälfte von den politischen Umständen gedrängt wurde, sich in kirchenpolitischen Traktaten zu engagieren, war dies zwar ein neues Aufgabenfeld. Theorie aber, die praktische Auswirkungen besaß, hat er seit seinen ersten Jahren entwickelt und entfaltet. (Fs)
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