Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz Stichwort: Freiheit und Wahrheit; Definition: Verantwortung; Dekalog
Kurzinhalt: Diese eine Wahrheit des Menschen, in der das Gut aller und die Freiheit unlösbar einander zugeordnet sind, ist in der biblischen Überlieferung zentral ausgedrückt im Dekalog, ...
Textausschnitt: Die Wahrheit unseres Menschseins
204a Die Frage danach, wie Verantwortung und Freiheit ins richtige Verhältnis zu setzen sind, kann nicht einfach durch ein Kalkül der Wirkungen entschieden werden. Wir müssen auf den vorigen Gedanken zurückkommen, daß menschliche Freiheit eine Freiheit im Miteinandersein der Freiheiten ist; nur so ist sie wahr, nämlich der realen Wirklichkeit des Menschen gemäß. Das bedeutet: Ich brauche gar nicht von außen her korrigierende Elemente zur Freiheit des einzelnen zu suchen; so würden Freiheit und Verantwortung, Freiheit und Wahrheit immer Gegensätze bleiben, die sie nicht sind. Die recht erkannte Wirklichkeit des einzelnen trägt selbst die Verwiesenheit auf das Ganze, auf den anderen in sich. Demgemäß werden wir sagen: Es gibt die in jedem Menschen liegende gemeinsame Wahrheit des einen Menschseins, die von der Überlieferung als »Natur« des Menschen bezeichnet wurde. Vom Schöpfungsglauben her können wir es noch deutlicher formulieren: Es gibt den einen Gottesgedanken Mensch, dem zu antworten unser Auftrag ist. In ihm sind Freiheit und Gemeinschaftlichkeit, Ordnung und Verwiesenheit auf die Zukunft ein einziges. (Fs)
205a Verantwortung würde dann bedeuten: Das Sein als Antwort leben - als Antwort auf das, was wir in Wahrheit sind. Diese eine Wahrheit des Menschen, in der das Gut aller und die Freiheit unlösbar einander zugeordnet sind, ist in der biblischen Überlieferung zentral ausgedrückt im Dekalog, der sich im übrigen in vieler Hinsicht mit den großen ethischen Überlieferungen anderer Religionen deckt. Der Dekalog ist zugleich Selbstvorstellung, Selbstdarstellung Gottes und Auslegung des Menschseins, Aufscheinen seiner Wahrheit, die im Spiegel des Gotteswesens sichtbar wird, weil nur von Gott her der Mensch recht zu verstehen ist. Den Dekalog leben heißt: die eigene Gottähnlichkeit leben, der Wahrheit unseres Wesens antworten und so das Gute tun. Noch mal anders gesagt: Den Dekalog leben bedeutet, die Göttlichkeit des Menschen zu leben, und das eben ist Freiheit: Verschmelzung unseres Seins mit dem göttlichen Sein und der daraus folgende Einklang aller mit allen.1 (Fs) (notabene)
205b Damit diese Aussage richtig verstanden wird, muß noch eine Anmerkung hinzugefügt werden. Jedes große Menschenwort reicht über das unmittelbar bewußt Gesagte in größere Tiefen hinein; im Gesagten steckt immer ein Überschuß des Ungesagten, der die Worte mit dem Vorangehen der Zeiten wachsen läßt. Wenn dies schon von menschlicher Rede gilt, so erst recht von dem Wort, das aus göttlicher Tiefe kommt. Der Dekalog ist nie einfach fertig verstanden. In den einander folgenden und sich verändernden Situationen geschichtlicher Verantwortung erscheint er in immer neuen Perspektiven, öffnen sich immer neue Dimensionen seiner Bedeutung. Es geschieht das Hineingeführtwerden ins Ganze der Wahrheit, in Wahrheit, die gar nicht in einem geschichtlichen Augenblick allein getragen werden könnte (vgl. Joh 16,121). Für den Christen bedeutet die Auslegung, die sich in Wort und Leben und Leiden und Auferstehen Christi vollzogen hat, die entscheidende Auslegungsinstanz, in der eine vorher nicht abzusehende Tiefe aufbricht. Weil es so ist, darum ist menschliches Zuhören auf die Botschaft des Glaubens kein passives Aufnehmen sonst unbekannter Information, sondern das Aufwecken unseres verschütteten Gedächtnisses und das Auftun der Kräfte des Verstehens, die in uns auf das Licht der Wahrheit warten. So ist solches Verstehen ein höchst aktiver Vorgang, in dem die ganze rationale Suche nach den Maßen unserer Verantwortung erst wirklich zu Kräften kommt. Die rationale Suche wird nicht erstickt, sondern aus dem hilflosen Kreisen im Unerforschlichen befreit und auf den Weg gebracht. Wenn der im rationalen Verstehen ausgefaltete Dekalog die Antwort auf den inneren Anspruch unseres Wesens ist, dann ist er nicht Gegenpol zu unserer Freiheit, sondern ihre reale Form. Dann ist er die Grundlage für jedes Recht der Freiheit und die eigentlich befreiende Kraft der menschlichen Geschichte. (Fs)
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