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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Freiheit und Wahrheit; Wesen der Freiheit; Beispiel: Abtreibung; implizites Ziel der modernen Freiheitsbewegung (Gegengott)

Kurzinhalt: ... gerade an diesem Beispiel wird die Grundfigur menschlicher Freiheit, ihr typisch menschliches Wesen deutlich. Denn worum geht es da? ... Das implizite Ziel aller modernen Freiheitsbewegungen ist ...

Textausschnitt: Vom Wesen menschlicher Freiheit

198a Nach diesem Versuch, die Herkunft unserer Probleme zu verstehen und so deren inneren Ansatz vor den Blick zu bekommen, wird es Zeit, nach Antworten zu suchen. Es ist wohl klar geworden, daß die Krise der Freiheitsgeschichte, in der wir heute stehen, auf einem ungeklärten und vereinseitigten Begriff von Freiheit beruht. Zum einen hat man den Begriff der Freiheit isoliert und dadurch verfälscht: Freiheit ist ein Gut, aber sie ist es nur im Verbund mit anderen Gütern, mit denen zusammen sie eine unauflösliche Ganzheit bildet. Zum anderen hat man den Freiheitsbegriff selbst verengt auf die individuellen Freiheitsrechte hin und ihn damit seiner menschlichen Wahrheit beraubt. Ich möchte das Problem dieses Freiheitsverständnisses an einem konkreten Beispiel verdeutlichen, das uns zugleich den Weg zu einer angemessenen Auffassung von Freiheit öffnen kann. Ich meine die Frage der Abtreibung. In der Radikalisierung der individualistischen Tendenz der Aufklärung erscheint Abtreibung als ein Freiheitsrecht: Die Frau muß über sich selbst verfügen können. Sie muß die Freiheit haben, ob sie ein Kind zur Welt bringen oder sich davon befreien will. Sie muß über sich selbst entscheiden dürfen, und niemand anders kann ihr - so wird uns gesagt - da von außen her eine letztlich bindende Norm auferlegen. Es geht um das Recht der Selbstbestimmung. Aber entscheidet die Frau bei der Abtreibung eigentlich über sich selbst? Entscheidet sie nicht gerade über jemand anderen - darüber, daß einem anderen keine Freiheit zugestanden werden soll, daß ihm der Raum der Freiheit - das Leben - genommen werden muß, weil das mit meiner eigenen Freiheit konkurriert? Und so ist zu fragen: Was ist das eigentlich für eine Freiheit, zu deren Rechten es zählt, die Freiheit eines anderen gleich vom Ansatz her aufzuheben? (Fs)

199a Nun sage man nicht, das Problem Abtreibung berühre einen spezifischen Sonderfall und tauge nicht, das Gesamtproblem von Freiheit zu klären. Nein, gerade an diesem Beispiel wird die Grundfigur menschlicher Freiheit, ihr typisch menschliches Wesen deutlich. Denn worum geht es da? Das Sein eines anderen Menschen ist so eng mit dem Sein dieses Menschen, der Mutter, verwoben, daß es einstweilen überhaupt nur im körperlichen Mitsein mit der Mutter bestehen kann, in einer physischen Einheit mit ihr, die doch seine Andersheit nicht aufhebt und sein Selbstsein nicht zu bestreiten gestattet. Freilich - dieses Selbersein ist auf radikale Weise ein Sein vom anderen, durch den anderen; umgekehrt wird das Sein des anderen - der Mutter - durch dieses Mitsein ins Für-Sein gedrängt, das seinem eigenen Selbstseinwollen widerspricht und so als Gegensatz zur eigenen Freiheit erfahren wird. Nun müssen wir hinzufügen, daß das Kind, auch wenn es geboren wird und die äußere Gestalt des Von-her-Seins und des Mit-Seins sich ändert, dennoch genauso abhängig, genauso angewiesen auf ein Für-Sein bleibt. Gewiß, nun kann man es in ein Heim abschieben und einem anderen Für zuordnen, aber die anthropologische Figur ist dieselbe, es bleibt das Vonher, das ein Für verlangt, eine Annahme der Grenzen meiner Freiheit, oder vielmehr ein Leben meiner Freiheit nicht aus der Konkurrenz, sondern aus dem gegenseitigen Sichtragen. Wenn wir die Augen auftun, sehen wir, daß dies wiederum nicht nur vom Kind gilt, daß vielmehr im Kind im Mutterleib nur das Wesen menschlicher Existenz im ganzen sich sehr anschaulich zu erkennen gibt: Auch für den Erwachsenen gilt, daß er nur mit dem anderen und von ihm her sein kann und so immerfort auf jenes Für-Sein angewiesen ist, das er gerade ausschließen möchte. Sagen wir es noch genauer: Der Mensch setzt zwar ganz von selbst das Für-Sein der anderen voraus, wie es sich heute im Netz der Dienstleistungssysteme gestaltet hat, aber er möchte seinerseits nicht in den Zwang eines solchen Von und Für hineingenommen sein, sondern ganz unabhängig werden, tun und lassen können, was er nur eben will. Das radikale Freiheitsverlangen, das sich im Weg der Aufklärung, besonders in der von Rousseau eröffneten Linie, immer deutlicher ergeben hat und heute weithin das allgemeine Bewußtsein bestimmt, möchte weder vonher noch woraufhin, weder von noch für sein, sondern eben ganz frei. Das heißt: Es sieht die reale Grundfigur menschlicher Existenz selbst als das jedem einzelnen Leben und Handeln vorausliegende Attentat auf die Freiheit an; es möchte gerade von seinem eigenen menschlichen Wesen zum »neuen Menschen« hin befreit werden: In der neuen Gesellschaft dürften diese das Ich beschränkenden Angewiesenheiten und dieses Sich-selbst-geben-Müssen nicht mehr existieren. (Fs) (notabene)

200a Im Grund steht hinter dem radikalen Freiheitsverlangen der Neuzeit ganz klar die Verheißung: Ihr werdet sein wie Gott. Auch wenn Ernst Topitsch glaubte, feststellen zu können, kein vernünftiger Mensch wolle heute mehr gottähnlich oder gottgleich sein, so muß man bei näherem Zusehen das genaue Gegenteil behaupten: Das implizite Ziel aller modernen Freiheitsbewegungen ist es, endlich wie ein Gott zu sein, von nichts und niemandem abhängig, durch keine fremde Freiheit in der eigenen beschränkt. Wenn man erst einmal diesen versteckten theologischen Kern des radikalen Freiheitswillens sichtet, dann wird auch der fundamentale Irrtum sichtbar, der sich selbst da noch auswirkt, wo solche Radikalismen direkt nicht gewollt, ja, abgelehnt werden. Ganz frei sein, ohne die Konkurrenz anderer Freiheit, ohne ein Von und ein Für - dahinter steht nicht ein Gottes-, sondern ein Götzenbild. Der Urirrtum solch radikalisierten Freiheitswillens liegt in der Idee einer Göttlichkeit, die rein egoistisch konzipiert ist. Der so gedachte Gott ist nicht ein Gott, sondern ein Götze, ja, das Bild dessen, was die christliche Überlieferung den Teufel - den Gegengott - nennen würde, weil darin eben der radikale Gegensatz zum wirklichen Gott liegt: Der wirkliche Gott ist seinem Wesen nach ganz Sein-Für (Vater), Sein-Von (Sohn) und Sein-Mit (Heiliger Geist). Der Mensch aber ist Gottes Ebenbild eben dadurch, daß das Von, Mit und Für die anthropologische Grundfigur bildet. Wo man sich von ihr zu befreien versucht, bewegt man sich nicht auf Göttlichkeit zu, sondern auf Entmenschlichung, auf Zerstörung des Seins selbst durch Zerstörung der Wahrheit. Die jakobinische Variante der Befreiungsidee (nennen wir die neuzeitlichen Radikalismen einmal so) ist Rebellion gegen das Menschsein selbst, Rebellion gegen die Wahrheit, und darum führt sie den Menschen - wie Sartre scharfsichtig gesehen hat - in eine Existenz des Selbstwiderspruchs, die wir Hölle nennen. (Fs) (notabene)

200b Damit ist wohl deutlich geworden, daß Freiheit an ein Maß, das Maß der Wirklichkeit - an die Wahrheit - gebunden ist. Freiheit zur Selbstzerstörung oder zur Zerstörung des anderen ist keine Freiheit, sondern ihre teuflische Parodie. Freiheit des Menschen ist geteilte Freiheit, Freiheit im Miteinandersein von Freiheiten, die sich gegenseitig begrenzen und sich so gegenseitig tragen: Freiheit muß sich an dem messen, was ich bin, was wir sind - andernfalls hebt sie sich selber auf. Damit kommen wir aber nun zu einer wesentlichen Korrektur des weithin herrschenden oberflächlichen Freiheitsbildes der Gegenwart: Wenn Freiheit des Menschen nur im geordneten Miteinandersein von Freiheiten bestehen kann, dann heißt dies, daß Ordnung - Recht - nicht Gegenbegriff zur Freiheit ist, sondern ihre Bedingung, ja ein konstitutives Element von Freiheit selbst. Recht ist nicht das Hindernis der Freiheit, sondern es konstituiert sie. Die Abwesenheit von Recht ist Abwesenheit von Freiheit. (Fs)

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