Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz Stichwort: Freiheit und Wahrheit; Ausgang und Frage; A. Szczypiorski Kurzinhalt: In der Skala der Werte, auf die es für den Menschen und sein menschenwürdiges Leben ankommt, erscheint Freiheit als der eigentliche Grundwert und als das grundlegende Menschenrecht überhaupt. Dem Begriff Wahrheit begegnen wir demgegenüber ...
Textausschnitt: Frage
187a Im Bewußtsein der Menschheit von heute erscheint Freiheit weithin als das höchste Gut überhaupt, dem alle anderen Güter nachgeordnet sind. In der Rechtsprechung hat durchweg die Freiheit der Kunst, die Freiheit der Meinungsäußerung den Vorrang vor jedem anderen sittlichen Wert. Werte, die mit der Freiheit konkurrieren, zu ihrer Einschränkung nötigen könnten, erscheinen als Fesseln, als »Tabus«, das heißt als Relikte archaischer Verbote und Ängste. Politisches Handeln muß sich dadurch ausweisen, daß es freiheitsfördernd ist. Auch Religion kann sich nur dadurch behaupten, daß sie sich als befreiende Kraft für den Menschen und die Menschheit darstellt. In der Skala der Werte, auf die es für den Menschen und sein menschenwürdiges Leben ankommt, erscheint Freiheit als der eigentliche Grundwert und als das grundlegende Menschenrecht überhaupt. Dem Begriff Wahrheit begegnen wir demgegenüber eher mit Verdacht: Man erinnert sich daran, für wie viele Meinungen und Systeme schon der Begriff Wahrheit in Anspruch genommen wurde; wie oft so die Behauptung von Wahrheit ein Mittel gewesen ist, um Freiheit niederzuhalten. Dazu kommt die von der Naturwissenschaft genährte Skepsis gegenüber allem, was nicht exakt erklärbar oder belegbar ist: All das scheint letztlich nur subjektive Wertung zu sein, die keine gemeinsame Verbindlichkeit in Anspruch nehmen kann. Die moderne Haltung der Wahrheit gegenüber zeigt sich am bündigsten in dem Pilatuswort: Was ist Wahrheit? Wer behauptet, mit seinem Leben und mit seinem Reden und Tun im Dienst der Wahrheit zu stehen, muß sich gefaßt machen, als Schwärmer oder als Fanatiker eingestuft zu werden. Denn »nach drüben ist der Ausblick uns versperrt«; dieses Goethewort aus dem Faust charakterisiert unser aller Empfinden. (Fs)
187b Zweifellos, es gibt Gründe genug, gegenüber allzu sicher auftretendem Wahrheitspathos vorsichtig zu fragen: Was ist Wahrheit? Aber es gibt ebensoviel Grund, die Frage zu stellen: Was ist Freiheit? Was meinen wir eigentlich, wenn wir Freiheit rühmen und sie auf die oberste Stufe unserer Wertskala stellen? Ich glaube, daß der im allgemeinen mit dem Freiheitsverlangen verbundene Inhalt recht treffend ausgelegt ist in den Worten, mit denen einmal Karl Marx seinen Traum von Freiheit ausgedrückt hat. Der Zustand der künftigen kommunistischen Gesellschaft werde es möglich machen, »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe ...«1 Genau in diesem Sinn versteht das unreflektierte Durchschnittsempfinden unter Freiheit das Recht und die Möglichkeit, alles das zu tun, was wir uns gerade wünschen, und nichts tun zu müssen, was wir nicht möchten. Anders gesagt: Freiheit würde bedeuten, daß das eigene Wollen die einzige Norm unseres Tuns sei und daß der Wille alles wollen könne und alles Gewollte auch auszuführen die Möglichkeit habe. An dieser Stelle steigen freilich Fragen auf: Wie frei ist der Wille eigentlich? Und wie vernünftig ist er? Und: Ist ein unvernünftiger Wille ein wirklich freier Wille? Ist eine unvernünftige Freiheit wirklich Freiheit? Ist sie wirklich ein Gut? Muß also die Definition der Freiheit vom Wollenkönnen und vom Tunkönnen des Gewollten her nicht durch den Zusammenhang mit der Vernunft, mit der Ganzheit des Menschen ergänzt werden, damit es nicht zur Tyrannei der Unvernunft komme? Und wird es nicht zum Zusammenspiel zwischen Vernunft und Wille gehören, dann auch die gemeinsame Vernunft aller Menschen und so die gegenseitige Verträglichkeit der Freiheiten zu suchen? Es ist offenkundig, daß in der Frage nach der Vernünftigkeit des Willens und seiner Vernunftbindung die Wahrheitsfrage verborgen mitgegeben ist. (Fs)
188a Zu solchen Fragen zwingen uns nicht nur abstrakte philosophische Überlegungen, sondern unsere ganz konkrete gesellschaftliche Situation, in der zwar das Freiheitsverlangen ungebrochen ist, aber doch Zweifel an allen bisherigen Formen von Befreiungsbewegungen und von Freiheitssystemen immer dramatischer erscheinen. Vergessen wir nicht, daß der Marxismus als die eine große politische Kraft des 20. Jahrhunderts unter dem Anspruch angetreten ist, die neue Welt der Freiheit und des befreiten Menschen heraufzuführen. Gerade dieses sein Versprechen, den wissenschaftlich gesicherten Weg zur Freiheit zu kennen und die neue Welt zu erschaffen, hat ihm viele der kühnsten Geister unserer Epoche zugeführt; schließlich erschien er gar als die Kraft, durch die die christliche Erlösungslehre endlich in eine realistische Befreiungspraxis umgewandelt werden könnte - als die Kraft, das Reich Gottes als das wahre Menschenreich heraufzuführen. Der Zusammenbruch des realen Sozialismus in den osteuropäischen Staaten hat solche Hoffnungen nicht ganz beseitigt, die da und dort im stillen weiterbestehen und nach neuer Gestalt suchen. Dem politischen und ökonomischen Zusammenbruch entsprach keine wirkliche geistige Überwindung, und insofern ist die vom Marxismus gestellte Frage noch keineswegs aufgelöst. Immerhin, daß sein System nicht so funktionierte, wie es versprochen war, ist offenkundig. Daß diese vermeintliche Befreiungsbewegung neben dem Nationalsozialismus das größte Sklavensystem der neuzeitlichen Geschichte war, kann im Ernst niemand mehr leugnen: Das Ausmaß zynischer Zerstörung des Menschen und der Welt wird zwar häufig eher schamvoll verschwiegen, aber bestreiten kann es niemand mehr. (Fs)
189a Die moralische Überlegenheit des liberalen Systems in Politik und Wirtschaft, die so zum Vorschein gekommen ist, läßt dennoch keinen Enthusiasmus aufkommen. Zu groß ist die Zahl derer, die an den Früchten dieser Freiheit nicht teilhaben, ja überhaupt jede Freiheit verlieren: Arbeitslosigkeit wird erneut zum Massenphänomen; das Gefühl des Nicht-gebraucht-Werdens, der Überflüssigkeit foltert die Menschen nicht weniger als die materielle Armut. Skrupellose Ausbeutung macht sich breit; das organisierte Verbrechen nutzt die Chancen der freiheitlichen Welt, und in alledem geht das Gespenst der Sinnlosigkeit um. Der polnische Philosoph Andrzej Szczypiorski hat auf den Salzburger Hochschulwochen 1995 das Dilemma der Freiheit schonungslos beschrieben, das sich nach dem Fall der Mauer ergeben hat; es lohnt sich, ihm etwas ausführlicher zuzuhören:
»Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Kapitalismus einen großen Fortschritt vollzog. Und es unterliegt auch keinem Zweifel, daß er die Erwartungen nicht erfüllte. In dem Kapitalismus ist immer wieder der Schrei der riesigen Massen zu hören, deren Begehren nicht erfüllt wurde ... Der Untergang der sowjetischen Konzeption der Welt und des Menschen in der politischen und sozialen Praxis war eine Befreiung von Millionen Menschenleben aus der Knechtschaft. Aber im europäischen Gedankengut, im Lichte der Tradition der letzten zweihundert Jahre, bedeutet die antikommunistische Revolution auch das Ende der aufklärerischen Illusionen, also die Zerstörung der intellektuellen Konzeption, die der Entwicklung des frühen Europa zugrunde lag... Es ist eine merkwürdige, niemandem bisher bekannte Epoche der Uniformierung der Entwicklung eingetreten. Und plötzlich erwies sich - wohl zum ersten Mal in der Geschichte - daß es nur ein einziges Rezept, einen einzigen Weg, ein einziges Modell und eine einzige Weise der Gestaltung der Zukunft gäbe. Und die Menschen verloren den Glauben an den Sinn der sich vollziehenden Umwandlungen. Sie verloren auch die Hoffnung darauf, daß die Welt überhaupt veränderbar ist und daß es sich lohnt, die Welt zu verändern ... Der heutige Mangel an einer Alternative läßt aber die Menschen völlig neue Fragen stellen. Die erste Frage: vielleicht hatte der Westen doch nicht recht? Die zweite Frage: wenn der Westen nicht recht hatte, wer hatte dann recht? Weil für niemanden in Europa wohl keinem Zweifel unterliegt, daß der Kommunismus nicht recht hatte, entsteht die dritte Frage: Vielleicht gibt es kein Recht? Aber wenn es so ist, hat das ganze Gedankengut der Aufklärung keinen Wert ... Vielleicht hielt die ausgediente Dampfmaschine der Aufklärung nach zwei Jahrhunderten nützlicher, störungsloser Arbeit vor unseren Augen und mit unserer Beteiligung an. Und der Dampf geht nur in die Luft. Wenn es so in der Tat ist, dann sind die Perspektiven finster.«2
190a Soviel man hier auch an Gegenfragen stellen könnte, der Realismus und die Logik der Grundfragen von Szczypiorski sind nicht beiseite zu schieben; aber zugleich ist die Diagnose so bedrückend, daß man bei ihr nicht stehenbleiben kann. Hatte niemand recht? Vielleicht gibt es kein Recht? Sind die Grundlagen der europäischen Aufklärung, auf denen unser Freiheitsweg beruht, falsch oder mindestens mangelhaft? Die Frage »Was ist Freiheit?« ist im letzten nicht weniger kompliziert als die Frage »Was ist Wahrheit?« Das Dilemma der Aufklärung, in das wir unleugbar hineingeraten sind, zwingt uns, beide Fragen neu zu stellen und auch neu nach beider Zusammenhang zu suchen. Um voranzukommen, müssen wir also den Ausgangspunkt des neuzeitlichen Freiheitsweges neu bedenken; die Kurskorrektur, die wir ganz offensichtlich brauchen, damit in der Verfinsterung der Perspektiven wieder Wege sichtbar werden, muß auf die Ausgangspunkte selbst zurückgreifen und dort einsetzen. Natürlich kann ich hier nur versuchen, ein paar Schlaglichter zu setzen, die Größe und Gefährdungen des neuzeitlichen Weges andeuten, um so zu neuer Besinnung zu helfen. (Fs)
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