Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz Stichwort: Glaube, Toleranz; Assmann, die "mosaische Unterscheidung": Wasserscheide der Religionsgeschichte; Rücknahme des Exodus (wahr - falsch); Aufklärung - Ägypten
Kurzinhalt: Dieser neue Religionstyp sei seinem Wesen nach »Gegenreligion«, die alles, was ihr vorausgeht, als »Heidentum« ausgrenze und nicht Medium interkultureller Übersetzung, sondern interkultureller Verfremdung. Textausschnitt: 170a Sind Toleranz und Glaube an offenbarte Wahrheit Gegensätze? Anders gewendet: Sind christlicher Glaube und Modernität vereinbar? Wenn zu den Grundlagen der Neuzeit die Toleranz gehört, ist dann die Behauptung, die wesentliche Wahrheit erkannt zu haben, nicht eine überholte Anmaßung, die abgewiesen werden muß, wenn die Spirale der Gewalt abgebrochen werden soll, die die Religionsgeschichte durchzieht? Diese Frage stellt sich in der Begegnung zwischen dem Christentum und der Welt heute immer dramatischer, und immer weiter breitet sich die Überzeugung aus, daß der Verzicht auf den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens die Grundbedingung für einen neuen Weltfrieden, die Grundbedingung für die Versöhnung von Christentum und Modernität sei. (Fs) (notabene)
Die »Mosaische Unterscheidung« - oder: Gehört die Wahrheitsfrage in die Religion?
170b Diese Problematik hat kürzlich der Ägyptologe Jan Assmann von einer Gegenüberstellung zwischen biblischer und ägyptischer, ja überhaupt polytheistischer Religion her neu formuliert und instrumentiert, so daß sie in seinen Ausführungen in ihrer ganzen historischen und philosophischen Begründung erscheint.1 Es lohnt sich, Assmann zuzuhören, dessen Auffassung man - wie mir scheint - in drei Grundthesen zusammenziehen kann. Assmann läßt die Frage nach dem historischen Mose, nach dem Aufbrechen und der Gestaltwerdung des monotheistischen Glaubens in Israel offen und betrachtet »Moses« als Chiffre der Erinnerung, der Weise also, wie die Erinnerung geschichtliches Bewußtsein gestaltet hat. In diesem Sinn spricht er von der »Mosaischen Unterscheidung«, die er als die wahre Wasserscheide der Religionsgeschichte überhaupt ansieht. Was er damit sagen will, drückt er so aus: »Mit der Mosaischen Unterscheidung meine ich die Einführung der Unterscheidung zwischen wahr und falsch im Bereich der Religionen. Die Religion basierte bis dahin auf der Unterscheidung zwischen rein und unrein oder heilig und profan und hatte überhaupt keinen Platz für die Idee falscher Götter ... die man nicht anbeten darf...«2 Die Götter der polytheistischen Religionen seien einander in funktionaler Äquivalenz zugeordnet und daher gegenseitig ineinander übersetzbar gewesen. Die Religionen hätten als Medium interkultureller Übersetzbarkeit fungiert. »Die Gottheiten waren international, weil sie kosmisch waren ... niemand bestritt die Wirklichkeit fremder Götter und die Legitimität fremder Formen ihrer Verehrung. Den antiken Polytheismen war der Begriff einer unwahren Religion völlig fremd.«3 Mit der Einführung des Ein-Gott-Glaubens geschieht demnach Neues, Umstürzendes: Dieser neue Religionstyp sei seinem Wesen nach »Gegenreligion«, die alles, was ihr vorausgeht, als »Heidentum« ausgrenze und nicht Medium interkultureller Übersetzung, sondern interkultureller Verfremdung. Nun erst sei der Begriff der »Idolatrie« als der obersten aller Sünden gebildet worden: »In der Vorstellung vom goldenen Kalb, der biblischen >Ursünde< des monotheistischen Ikonoklasmus ... ist das Haß- und Gewaltpotential festgeschrieben, das sich in der Geschichte der monotheistischen Religionen immer wieder aktualisiert hat.«4 Die Exoduserzählung erscheint mit diesem ihrem Gewaltpotential als der Gründungsmythos der monotheistischen Religion und zugleich als das bleibende Porträt ihrer Wirkungen. (Fs) (notabene)
172a Die Konsequenz ist klar: Der Exodus ist rückgängig zu machen; wir müssen zurück nach »Ägypten« - das heißt: Die Unterscheidung von wahr und unwahr im Bereich der Religion muß aufgehoben werden, wir müssen wieder zurück in die Welt der Götter, die den Kosmos in seinem Reichtum und seiner Vielfalt ausdrücken und daher keinen gegenseitigen Ausschluß kennen, sondern gegenseitiges Verstehen ermöglichen. Das Verlangen, den Exodus rückgängig zu machen, zieht sich übrigens schon das ganze Alte Testament hindurch. Es bricht in der Geschichte der Wüstenwanderung immer wieder auf und wird noch einmal dramatisch gegenwärtig am Ende der alttestamentlichen Literatur im ersten Buch der Makkabäer. Da wird von »Verrätern am Gesetz« berichtet, die einen Bund »mit den Völkern« vorschlagen, »denn seit wir uns von ihnen abgesondert haben, geht es uns schlecht«. Sie entscheiden sich, nicht mehr nach dem Gesetz des Mose, sondern »nach den Gesetzen der fremden Völker zu leben« (1 Makk 1,11-15). Assmann schildert seinerseits eingehend die Sehnsucht nach Ägypten, nach der Rückkehr hinter die Mosaische Unterscheidung, von der Renaissance mit ihrer Verehrung des Corpus Hermeticum als einer Ur-Theologie bis in die Ägyptenträume der Aufklärung mit Mozarts Zauberflöte als großartiger künstlerischer Gestaltung dieser Sehnsucht. Er zeigt beeindruckend, wie dieses neue Interesse an Ägypten durch die religiösen und politischen Konflikte jener Zeit ausgelöst wurde, das die »schreckliche Erfahrung der Religionskriege und die religiösen Kontroversen um Atheismus, Polytheismus, Deismus, Freidenkertum im Gefolge von Thomas Hobbes und Baruch Spinoza« erlebt hatte. Ägypten stand als »Ursprung aller Religion« für die »letzte Konvergenz von Vernunft und Offenbarung oder Natur und Schrift.«5 Kein Zweifel, daß sich Assmann auf seine Weise in diese Bewegung, die Rückkehr hinter den Exodus einordnet, eben weil er die Mosaische Unterscheidung, die der Exodus ist, als Quelle der Übel ansieht, die Religion entstellt und die Intoleranz in die Welt getragen hat. Wenn ich ihn recht verstehe, ist für ihn Spinozas Formel »Deus sive natura« zugleich die Kurzformel dessen, was mit dieser Rückkehr, mit seinem »Ägypten« gemeint ist: Die Unterscheidung von wahr und falsch kann aus der Religion weggenommen werden, wenn die Unterscheidung von Gott und Kosmos fällt, wenn das Göttliche und die »Welt« wieder als ununterschieden ein Einziges gesehen werden. Die Unterscheidung von wahr und falsch in der Religion ist mit der Unterscheidung von Gott und Welt unlöslich verknüpft. Die Rückkehr nach Ägypten ist Rückkehr zu den Göttern, sofern sie einen der Welt gegenüberstehenden Gott abweist, die Götter aber nur als symbolische Ausdrucksformen der göttlichen Natur ansieht. (Fs)
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