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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Fides et Ratio; Bibel: Überschreitung der Kulturen; Eurozentrismus; Israel: Kampf gegen das Eigenen; Einzigartigkeit: Dynamik der Selbstüberschreitung

Kurzinhalt: Die Bibel ist nicht einfach Ausdruck der Kultur des Volkes Israel, sondern sie liegt ständig im Streit mit dem ganz natürlichen Versuch dieses Volkes, einfach es selbst zu sein, sich in seiner eigenen Kultur einzuhausen.

Textausschnitt: 160a Wenn der Papst auf der Unverzichtbarkeit des einmal errungenen kulturellen Erbes insistiert, das zu einem Vehikel für die gemeinsame Wahrheit Gottes und des Menschen selbst geworden ist, dann erhebt sich natürlich doch die Frage, ob damit nicht ein Eurozentrismus des Glaubens kanonisiert wird, der auch dadurch nicht aufgehoben scheint, daß ja in der weitergehenden Geschichte des Glaubens auch neues Erbe in die beständige und alle angehende Identität des Glaubens eintreten kann und schon eingetreten ist. Die Frage bleibt unausweichlich: Wie griechisch und wie lateinisch ist der Glaube eigentlich, der im übrigen nicht in der griechischen und lateinischen, sondern in der semitischen Welt des Vorderen Orients entstanden ist, in der sich immer schon Asien, Afrika und Europa berührt haben und berühren? Die Enzyklika nimmt besonders in ihrem zweiten Kapitel über die Entfaltung philosophischen Denkens im Inneren der Bibel und im vierten Kapitel bei der Darstellung der schicksalhaften Begegnung dieser im Glauben gewachsenen Weisheit der Vernunft mit der griechischen Weisheit der Philosophie Stellung zu diesem Problem. Dies ist eine Frage, die uns in diesem Buch von verschiedenen Seiten her immer wieder begegnet, an dieser Stelle mögen die folgenden Hinweise dienlich sein. (Fs)

160b Schon in der Bibel selbst wird vielfältiges religiöses und philosophisches Gedankengut aus verschiedenen kulturellen Welten verarbeitet. Das Wort Gottes entfaltet sich in einem Prozeß der Begegnungen mit der Suche des Menschen nach Antwort auf seine letzten Fragen. Es ist nicht einfach steil vom Himmel herabgefallen, sondern es ist geradezu eine Synthese der Kulturen. Es läßt uns aber tiefer gesehen einen Prozeß erkennen, in dem Gott mit dem Menschen ringt und ihn langsam für sein tiefstes Wort, für sich selbst öffnet: den Sohn, der der Logos ist. Die Bibel ist nicht einfach Ausdruck der Kultur des Volkes Israel, sondern sie liegt ständig im Streit mit dem ganz natürlichen Versuch dieses Volkes, einfach es selbst zu sein, sich in seiner eigenen Kultur einzuhausen. Der Glaube an Gott und das Ja zum Willen Gottes wird ihm ständig gegen seine eigenen Vorstellungen und Wünsche abgerungen. Er tritt der eigenen Religiosität Israels und seiner eigenen religiösen Kultur, die sich im Höhenkult, im Kult der Himmelskönigin, im Machtanspruch des eigenen Königtums ausdrücken möchte, fortwährend entgegen. Vom Zorn Gottes und des Mose gegen den Kult des goldenen Jungstiers am Sinai angefangen bis hin zu den späten nachexilischen Propheten geht es immerfort darum, daß Israel aus seiner eigenen kulturellen Identität und seinen religiösen Wünschen herausgerissen wird, daß es sozusagen den Kult der eigenen Nationalität, den Kult von »Blut und Boden« lassen muß, um sich dem ganz anderen, dem nichteigenen Gott zu beugen, der Himmel und Erde geschaffen hat und der Gort aller Völker ist. Der Glaube Israels bedeutet eine fortwährende Selbstüberschreitung der eigenen Kultur ins Offene und Weite der gemeinsamen Wahrheit hinein. Die Bücher des Alten Testaments mögen in vieler Hinsicht weniger fromm, weniger poetisch, weniger inspiriert erscheinen als bedeutende Stellen der heiligen Bücher anderer Völker. Aber sie haben doch ihre Einzigartigkeit in diesem Streitcharakter des Glaubens gegen das Eigene, in diesem Aufbruch aus dem Eigenen heraus, der mit Abrahams Wanderschaft beginnt. Der Ausbruch aus dem Gesetz, den Paulus aufgrund seiner Begegnung mit dem auferstandenen Jesus Christus erkämpft, führt diese Grundrichtung des Alten Testaments zu ihrem logischen Ziel: Er bedeutet vollends die Universalisierung dieses Glaubens, der vom Eigenen einer völkischen Ordnung gelöst wird. Nun sind alle Völker eingeladen, in diesen Prozeß der Überschreitung des Eigenen einzutreten, der zuerst in Israel begonnen hat; sie sind eingeladen, sich zu dem Gott hinzukehren, der sich in Jesus Christus seinerseits selbst überschritten, die »Mauer der Feindschaft« zwischen uns aufgerissen hat (Eph 2,14) und uns in der Selbstenteignung des Kreuzes zueinander führt. Glaube an Jesus Christus ist also seinem Wesen nach fortwährendes Sichöffnen, Einbruch Gottes in die menschliche Welt und darauf antwortender Aufbruch des Menschen zu Gott hin, der zugleich die Menschen zueinander führt. Alles Eigene gehört nun allen, und alles andere wird zugleich auch unser Eigen, dies Ganze umgriffen von dem Wort des Vaters an den älteren Sohn: »All das Meinige ist dein« (Lk 15,31), das im hohepriesterlichen Gebet Jesu als Anrede des Sohnes an den Vater wiederkehrt: »All das Meinige ist dein, und all das Deinige ist mein« (Joh 17,10). (Fs)

161a Dieses Grundmuster bestimmt auch die Begegnung der christlichen Botschaft mit der griechischen Kultur, die freilich nicht erst in der christlichen Mission beginnt, sondern sich schon im Inneren der Schriften des Alten Testaments, besonders durch seine Übersetzung ins Griechische und von dieser her im Frühjudentum entwickelt hatte. Diese Begegnung war möglich, weil sich in der griechischen Welt inzwischen ein ähnlicher Vorgang der Selbstüberschreitung angebahnt hatte. Die Väter haben nicht einfach eine in sich stehende und sich selbst gehörende griechische Kultur ins Evangelium eingeschmolzen. Sie konnten den Dialog mit der griechischen Philosophie aufnehmen und sie zum Instrument des Evangeliums dort machen, wo in der griechischen Welt durch die Suche nach Gott eine Selbstkritik der eigenen Kultur und des eigenen Denkens in Gang gekommen war. Der Glaube bindet die verschiedenen Völker - beginnend mit den Germanen und Slawen, die in der Zeit der Völkerwanderung mit der christlichen Botschaft in Berührung kamen, bis hin zu den Völkern Asiens, Afrikas, Amerikas - nicht an die griechische Kultur als solche, sondern an deren Selbstüberschreitung, die der wahre Anknüpfungspunkt für die Auslegung der christlichen Botschaft war. Er zieht sie von da aus in die Dynamik der Selbstüberschreitung hinein. Richard Schäffler hat dazu treffend gesagt, daß die christliche Predigt von Anfang an von den Völkern Europas (das übrigens vor der christlichen Mission als solches nicht existierte) »den Abschied ... von jedem autochthonen Gott der Europäer verlangt [hat], längst ehe außereuropäische Kulturen in ihr Blickfeld traten«.1 Von da aus ist es zu verstehen, warum die christliche Verkündigung an die Philosophie anknüpfte, nicht an die Religionen. Wo letzteres versucht wurde, wo man zum Beispiel Christus als den wahren Dionysos, Asklepios oder Herakles interpretieren wollte, sind solche Versuche schnell überholt gewesen.2 Daß man nicht an die Religionen, sondern an die Philosophie anknüpfte, hängt eben damit zusammen, daß man nicht eine Kultur kanonisiert hat, sondern dort in sie eintreten konnte, wo sie selbst begonnen hatte, aus sich herauszutreten, wo sie sich auf den Weg ins Offene der gemeinsamen Wahrheit begeben und die Einhausung im bloß Eigenen hinter sich gelassen hatte. Das ist für die Frage der Anknüpfungen und des Übergangs zu anderen Völkern und Kulturen auch heute ein grundlegender Hinweis. Sicher kann der Glaube nicht an Philosophien anknüpfen, die die Wahrheitsfrage ausschließen, wohl aber an Bewegungen, die aus dem relativistischen Kerker auszubrechen sich mühen. Sicher kann er nicht unmittelbar die alten Religionen übernehmen. Wohl aber können die Religionen Formen und Gestaltungen bereitstellen, besonders aber Haltungen - der Ehrfurcht, der Demut, der Opferbereitschaft, der Güte, der Nächstenliebe, der Hoffnung auf das ewige Leben.3 Dies scheint mir -nebenbei bemerkt - auch für die Frage nach der Heilsbedeutung der Religionen wichtig zu sein. Sie retten nicht sozusagen als geschlossene Systeme und durch Systemtreue, sondern sie tragen zur Rettung bei, wo sie den Menschen dahin bringen, »nach Gott zu fragen« (wie das Alte Testament es ausdrückt), »sein Angesicht zu suchen«, »das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen«. (Fs) (notabene)

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