Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz Stichwort: Christentum - die wahre Religion?, Aufklärung; Evolution, Evolutionslehre; Porphyrius, Julian
Kurzinhalt: Alle Krisen im Inneren des Christentums, die wir gegenwärtig beobachten, beruhen nur ganz sekundär auf institutionellen Problemen. Die Probleme der Institutionen wie der Personen in der Kirche rühren letztlich von der gewaltigen Wucht dieser Frage her.
Textausschnitt: 141a Rückschauend können wir sagen, daß die Kraft des Christentums, die es zur Weltreligion werden ließ, in seiner Synthese von Vernunft, Glaube und Leben bestand; genau diese Synthese ist in dem Wort von der religio vera zusammenfassend ausgedrückt. Um so mehr drängt sich die Frage auf: Warum überzeugt diese Synthese heute nicht mehr? Warum gelten heute im Gegenteil Aufklärung und Christentum als einander widersprechend, ja, ausschließend? Was hat sich an der Aufklärung, was am Christentum geändert, daß es so ist? Damals hatte der Neuplatonismus, besonders Porphyrius, der christlichen Synthese eine andere Interpretation des Verhältnisses von Philosophie und Religion entgegengestellt, die sich als philosophische Neubegründung der Religion der Götter verstand. Auf ihr hatte Julian aufgebaut und war gescheitert. Aber heute scheint sich gerade diese andere Form, Religion und Aufklärung in Ausgleich zu bringen, als die dem modernen Bewußtsein angemessenere Weise von Religiosität durchzusetzen. Ihr erster Grundgedanke ist bei Porphyrius so formuliert: Latet omne verum - die Wahrheit ist verborgen.1 Erinnern wir uns an das Elefantengleichnis, das genau von diesem Gedanken bestimmt ist, in dem sich Buddhismus und Neuplatonismus begegnen. Demgemäß gibt es über die Wahrheit, über Gott nur Meinungen, keine Gewißheit. In der Krise Roms im späten vierten Jahrhundert hat der Senator Symmachus - Gegenbild nun zu Varros Religionstheorie - die neuplatonische Auffassung auf einfache und pragmatische Formeln gebracht, die wir in seiner 384 vor Kaiser Valentinian II. gehaltenen Rede zur Verteidigung des Heidentums und für die Wiederaufstellung der Göttin Victoria im römischen Senat finden können. Ich zitiere nur den entscheidenden und berühmt gewordenen Satz: »Das Gleiche ist es, was alle verehren, eines, das wir denken, dieselben Sterne schauen wir, der Himmel über uns ist eins, dieselbe Welt umfängt uns; was macht es aus, aufweiche Art von Klugheit der einzelne die Wahrheit sucht? Man kann nicht auf einem einzigen Weg zu einem so großen Geheimnis gelangen.«2 Genau dies sagt heute die Aufklärung: Die Wahrheit als solche kennen wir nicht; in unterschiedlichen Bildern meinen wir doch dasselbe. Ein so großes Geheimnis, das Göttliche kann nicht auf eine Gestalt festgelegt werden, die alle anderen ausschlösse - auf einen Weg, der alle verpflichtete. Der Wege sind viele, der Bilder viele, alle spiegeln etwas vom Ganzen, und keines ist selbst das Ganze. Dem gehört das Ethos der Toleranz zu, das in jedem ein Stück Wahrheit erkennt, das Eigene nicht höher stellt als das Fremde und sich friedvoll in die vielgestaltige Symphonie des ewig Unzugänglichen einfügt, das sich in Symbolen verhüllt, die doch unsere einzige Möglichkeit zu sein scheinen, irgendwie nach dem Göttlichen zu greifen. (Fs)
142a Ist demnach der Anspruch des Christentums, religio vera zu sein, durch den Fortgang der Aufklärung überholt? Muß es von seinem Anspruch heruntersteigen und sich in die neuplatonische oder buddhistische oder hinduistische Sicht von Wahrheit und Symbol einfügen, sich - wie Troeltsch es vorgeschlagen hatte - damit bescheiden, die den Europäern zugewandte Seite des Antlitzes Gottes zu zeigen? Muß es vielleicht sogar einen Schritt weiter gehen als Troeltsch, der noch meinte, das Christentum sei die für Europa angemessene Religion, während doch heute gerade Europa an dieser Angemessenheit zweifelt? Dies ist die eigentliche Frage, der sich heute Kirche und Theologie zu stellen haben. Alle Krisen im Inneren des Christentums, die wir gegenwärtig beobachten, beruhen nur ganz sekundär auf institutionellen Problemen. Die Probleme der Institutionen wie der Personen in der Kirche rühren letztlich von der gewaltigen Wucht dieser Frage her. Niemand wird erwarten, daß diese grundsätzliche Herausforderung beim Übergang vom zweiten zum dritten christlichen Jahrtausend an dieser Stelle auch nur von ferne abschließend beantwortet wird. Sie kann überhaupt nicht rein theoretisch beantwortet werden, wie denn Religion als das Letztverhalten des Menschen nie nur Theorie ist. Sie verlangt jenes Zusammenspiel von Einsicht und Tun, das die Überzeugungskraft des Christentums der Väter begründete. (Fs) (notabene)
143a Dies bedeutet beileibe nicht, daß man sich dem intellektuellen Anspruch des Problems mit dem Verweis auf den notwendigen Praxisbezug entziehen dürfte. Ich versuche zum Schluß nur einen Ausblick, der die Richtung zeigen könnte. Wir hatten gesehen, daß die ursprüngliche, freilich nie ganz unbestrittene Beziehungseinheit zwischen Aufklärung und Glaube, die schließlich bei Thomas von Aquin auf eine systematische Form gebracht worden war, weniger durch die Entwicklung des Glaubens als vielmehr durch die neuen Schritte der Aufklärung zerrissen worden ist. Als Stationen dieses Auseinandertretens könnte man Descartes, Spinoza, Kant nennen. Der Versuch einer umfassenden neuen Synthese bei Hegel gibt nicht dem Glauben seinen philosophischen Ort zurück, sondern versucht, ihn ganz in Vernunft umzusetzen und als Glauben aufzuheben. Dieser Absolutheit des Geistes stellt Marx die Einzigkeit der Materie entgegen; Philosophie soll nun ganz auf exakte Wissenschaft zurückgeführt werden. Nur noch exakte wissenschaftliche Erkenntnis ist überhaupt Erkenntnis. Der Gedanke an das Göttliche ist damit abgedankt. Die Ankündigung von Auguste Comte, eines Tages werde es eine Physik des Menschen geben und die bisher der Metaphysik überlassenen großen Fragen würden in Zukunft genauso »positiv« zu behandeln sein wie alles, was jetzt schon positive Wissenschaft ist, hat im 20. Jahrhundert in den Humanwissenschaften ein beeindruckendes Echo hinterlassen. Die durch das christliche Denken vollzogene Trennung von Physik und Metaphysik wird immer mehr zurückgenommen. Alles soll wieder »Physik« werden.3 Immer mehr hat sich die Evolutionstheorie als der Weg herauskristallisiert, um Metaphysik endlich verschwinden, die »Hypothese Gott« (Laplace) überflüssig werden zu lassen und eine streng »wissenschaftliche« Erklärung der Welt zu formulieren. Eine umfassend das Ganze alles Wirklichen erklärende Evolutionstheorie ist zu einer Art »erster Philosophie« geworden, die sozusagen die eigentliche Grundlage für das aufgeklärte Verständnis der Welt darstellt.4 Jeder Versuch, andere als die in einer solchen »positiven« Theorie erarbeiteten Ursachen ins Spiel zu bringen, jeder Versuch von »Metaphysik« muß als Rückfall hinter die Aufklärung, als Ausstieg aus dem Universalanspruch der Wissenschaft erscheinen. Damit muß der christliche Gottesgedanke als unwissenschaftlich gelten. Ihm entspricht keine theologia physica (theologia physikE) mehr: Die einzige theologia naturalis ist in solcher Sicht die Evolutionslehre, und die kennt eben keinen Gott, weder einen Schöpfer im Sinn des Christentums (des Judentums und des Islam), noch auch eine Weltseele oder innere Triebkraft im Sinn der Stoa. Allenfalls könnte man im Sinn des Buddhismus diese ganze Welt als Schein und das Nichts als das eigentlich Wirkliche betrachten und in diesem Sinn mystische Religionsformen rechtfertigen, die wenigstens mit der Aufklärung nicht direkt konkurrieren. (Fs)
144a Ist damit das letzte Wort gesprochen, sind Vernunft und Christentum demnach definitiv voneinander getrennt? Jedenfalls führt an dem Disput über die Reichweite der Evolutionslehre als erster Philosophie und über die Ausschließlichkeit positiver Methode als einziger Weise von Wissenschaft und von Rationalität kein Weg vorbei. Dieser Disput muß daher von beiden Seiten sachlich und hörbereit in Angriff genommen werden, was bisher nur in geringem Maß geschehen ist. Niemand wird die wissenschaftlichen Beweise für die mikroevolutiven Prozesse ernstlich in Zweifel ziehen können. R. Junker und S. Scherer sagen dazu in ihrem »kritischen Lesebuch« über die Evolution: »Solche Vorgänge (mikroevolutive Prozesse) sind vielfach aus natürlichen Variations- und Ausbildungsprozessen bekannt. Ihre Erforschung durch die Evolutionsbiologie ergab bedeutende Einsichten in die genial erscheinende Anpassungsfähigkeit lebender Systeme.«5 Sie sagen dementsprechend, man könne Ursprungsforschung mit Fug und Recht als die Königsdisziplin der Biologie bezeichnen. Nicht darauf bezieht sich daher die Frage, die ein Gläubiger der modernen Vernunft gegenüber stellen wird, sondern auf die Ausdehnung zu einer philosophia universalis, die zur Gesamterklärung des Wirklichen werden will und keine andere Ebene des Denkens mehr übriglassen möchte. Innerhalb der Evolutionslehre selbst deutet sich das Problem an beim Übergang von der Mikro- zur Makroevolution, zu dem Szathmary und Maynard Smith, beide überzeugte Anhänger einer umfassenden Evolutionstheorie, immerhin erklären: »Es gibt keinen theoretischen Grund, der erwarten lassen würde, daß evolutionäre Linien mit der Zeit an Komplexität zunehmen; es gibt auch keine empirischen Belege, daß dies geschieht.«6
145a Die Frage, die hier zu stellen ist, reicht freilich tiefer: Es geht darum, ob die Evolutionslehre als Universaltheorie alles Wirklichen auftreten darf, über die hinaus weitere Fragen nach Ursprung und Wesen der Dinge nicht mehr zulässig und auch nicht mehr nötig sind oder ob solche Letztfragen nicht doch den Bereich des rein naturwissenschaftlich Erforschbaren überschreiten. Ich möchte die Frage noch konkreter stellen. Ist alles gesagt mit einem Typus von Antworten, wie wir ihn etwa bei Popper in folgender Formulierung finden: »Das Leben, so wie wir es kennen, besteht aus physikalischen >Körpern< (besser aus Prozessen und Strukturen), die Probleme lösen. Das haben die verschiedenen Arten durch die natürliche Auslese >gelernt<, das heißt, durch die Methode von Reproduktion plus Variation; eine Methode, die ihrerseits nach der gleichen Methode erlernt wurde. Das ist ein Regreß, aber er ist nicht unendlich ...«?7 Ich glaube nicht. Letzten Endes geht es um eine Alternative, die sich bloß naturwissenschaftlich und im Grunde auch philosophisch nicht mehr auflösen läßt. Es geht um die Frage, ob die Vernunft bzw. das Vernünftige am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grunde steht oder nicht. Es geht um die Frage, ob das Wirkliche aufgrund von Zufall und Notwendigkeit (oder mit Popper im Anschluß an Butler aus Luck und Cunning8 [glücklicher Zufall und Voraussicht]), also aus dem Vernunftlosen entstanden ist, ob also die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet: In principio erat Verbum - am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft. Der christliche Glaube ist heute wie damals die Option für die Priorität der Vernunft und des Vernünftigen. Diese Letztfrage kann nicht mehr, wie schon gesagt, durch naturwissenschaftliche Argumente entschieden werden, und auch das philosophische Denken stößt hier an seine Grenzen. In diesem Sinn gibt es eine letzte Beweisbarkeit der christlichen Grundoption nicht. Aber kann eigentlich die Vernunft auf die Priorität des Vernünftigen vor dem Unvernünftigen, auf die Uranfänglichkeit des Logos verzichten, ohne sich selbst aufzuheben? Das von Popper vorgeführte Erklärungsmodell, das in anderen Darstellungen der »ersten Philosophie« in verschiedenen Variationen wiederkehrt, zeigt, daß die Vernunft gar nicht anders kann, als auch das Unvernünftige nach ihrem Maß, also vernünftig zu denken (Probleme lösen, Methode erlernen!), womit sie implizit doch wieder den eben geleugneten Primat der Vernunft aufrichtet. Durch seine Option für den Primat der Vernunft bleibt das Christentum auch heute »Aufklärung«, und ich denke, daß eine Aufklärung, die diese Option abstreift, allem Anschein zuwider nicht eine Evolution, sondern eine Involution der Aufklärung bedeuten müßte. (Fs)
146a Wir hatten gesehen, daß in der Konzeption der frühen Christenheit die Begriffe von Natur, Mensch, Gott, Ethos und Religion unlösbar ineinander verknotet waren und daß zur Einsichtigkeit des Christentums in der Krise der Götter und in der Krise der antiken Aufklärung gerade diese Verknüpfung beigetragen hatte. Die Orientierung der Religion an einer vernünftigen Sicht der Wirklichkeit überhaupt, das Ethos als Teil dieser Vision und seine konkrete Anwendung unter dem Primat der Liebe verbanden sich miteinander. Primat des Logos und Primat der Liebe erwiesen sich als identisch. Der Logos erschien nicht nur als mathematische Vernunft auf dem Grund aller Dinge, sondern als schöpferische Liebe bis zu dem Punkt hin, daß er Mit-Leiden mit dem Geschöpf wird. Der kosmische Aspekt der Religion, die den Schöpfer in der Macht des Seins verehrt, und ihr existentieller Aspekt, die Erlösungsfrage, traten ineinander und wurden ein Einziges. Tatsächlich muß jede Erklärung des Wirklichen ungenügend bleiben, die nicht auch ein Ethos sinnvoll und einsichtig begründen kann. Nun hat in der Tat die Evolutionstheorie, wo sie sich zur philosophia universalis auszuweiten anschickt, auch das Ethos evolutionär neu zu begründen versucht. Aber dieses evolutionäre Ethos, das seinen Schlüsselbegriff unausweichlich im Modell der Selektion, also im Kampf ums Überleben, im Sieg des Stärkeren, in der erfolgreichen Anpassung findet, hat wenig Tröstliches zu bieten. Auch wo man es auf mancherlei Weise zu verschönern strebt, bleibt es letztlich ein grausames Ethos. Das Bemühen, aus dem an sich Vernunftlosen das Vernünftige zu destillieren, scheitert hier recht augenfällig. Zu einer Ethik des universalen Friedens, der praktischen Nächstenliebe und der nötigen Überwindung des Eigenen, die wir brauchen, ist dies alles wenig tauglich. (Fs)
147a Der Versuch, in dieser Krise der Menschheit dem Begriff des Christentums als religio vera wieder einen einsichtigen Sinn zu geben, muß sozusagen auf Orthopraxie und Orthodoxie gleichermaßen setzen. Sein Inhalt wird heute - letztlich wie damals - im Tiefsten darin bestehen müssen, daß Liebe und Vernunft als die eigentlichen Grundpfeiler des Wirklichen in eins gehen: Die wahre Vernunft ist die Liebe, und die Liebe ist die wahre Vernunft. In ihrer Einheit sind sie der wahre Grund und das Ziel alles Wirklichen. (Fs)
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