Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz Stichwort: Glaube, Vernunft; innere Rationalität des Christentums; kein System - Erhellung aus der Geschichte; der Gott Abrahams: translokal, transtemporal, Futur, Herr der Zeit Kurzinhalt: Der christliche Glaube ist kein System. Er kann nicht wie ein geschlossenes Denkgebäude dargestellt werden. Er ist ein Weg, und dem Weg ist es eigen, daß er nur durch das Eintreten in ihn, das Gehen darauf erkennbar wird. Textausschnitt: 117a Ich möchte hier nicht den Versuch Heisenbergs aufnehmen, von der eigenen Logik des naturwissenschaftlichen Denkens aus die Selbstüberschreitung der Wissenschaft und den Zugang zur »zentralen Ordnung« zu finden, so lohnend und so unentbehrlich solches Mühen ist. Mein Versuch in diesem Vortrag zielt darauf, sozusagen die innere Rationalität des Christlichen freizulegen. Dies soll in der Weise geschehen, daß wir fragen, was eigentlich dem Christentum im Verfall der Religionen der alten Welt jene Überzeugungskraft gegeben hat, durch die es einerseits den Untergang jener Welt auffangen und zugleich den auf die Bühne der Weltgeschichte hereintretenden neuen Kräften, den Germanen und den Slawen, seine Antworten so weiterzugeben vermochte, daß daraus unbeschadet mancher Umbrüche und Zerbrüche eine über eineinhalb Jahrtausende hin tragende Form des Wirklichkeitsverständnisses entstand, in der alte und neue Welt sich verschmelzen konnten. Hier stoßen wir auf eine Schwierigkeit. Der christliche Glaube ist kein System. Er kann nicht wie ein geschlossenes Denkgebäude dargestellt werden. Er ist ein Weg, und dem Weg ist es eigen, daß er nur durch das Eintreten in ihn, das Gehen darauf erkennbar wird. Dies gilt in einem doppelten Sinn: Jedem einzelnen erschließt sich das Christliche nicht anders als im Experiment des Mitgehens; in seiner Ganzheit läßt es sich nur erfassen als geschichtlicher Weg, dessen wesentlichen Verlauf ich in großen Zügen andeuten möchte. (Fs)
118a Der Weg beginnt mit Abraham. Bei der Skizze, die ich versuche, kann und will ich selbstverständlich nicht in das Gestrüpp der vielfältigen Hypothesen darüber eintreten, was in den alten Berichten als historisch betrachtet werden darf und was nicht. Hier geht es nur darum zu fragen, wie die schließlich geschichtstragend gewordenen Texte selbst jenen Weg sehen. Da ist dann als erstes zu sagen, daß Abraham ein Mensch war, der sich von einem Gott angeredet wußte und sein Leben aus diesem Gespräch gestaltete. Man könnte als Vergleich an Sokrates denken, dem ein »Daimonion«, eine merkwürdige Art der Eingebung, zwar nichts Positives offenbarte, aber den Weg verlegte, wenn er sich nur seinen eigenen Ideen hingeben oder der allgemeinen Meinung anschließen wollte.1 Was können wir über diesen Gott Abrahams ausmachen? Er tritt noch keineswegs mit dem monotheistischen Anspruch des einzigen Gottes aller Menschen und der ganzen Welt auf, aber er hat doch eine sehr spezifische Physiognomie. Er ist nicht der Gott einer bestimmten Nation, eines bestimmten Landes; nicht der Gott eines bestimmten Bereiches, etwa der Luft oder des Wassers usw., was im religiösen Kontext von damals einige der wichtigsten Erscheinungsformen des Göttlichen waren. Er ist der Gott einer Person, eben Abrahams. Diese Besonderheit, daß er nicht einem Land, einem Volk, einem Lebensbereich zugehörte, sondern einer Person sich zuordnete, hat zwei bemerkenswerte Folgen. (Fs)
118b Die erste Folge war, daß dieser Gott für den ihm zugehörigen, von ihm gewählten Menschen überall Macht hat. Seine Macht ist nicht an bestimmte geographische oder sonstige Grenzen gebunden, sondern er kann die Person begleiten, schützen, führen, wo immer er will und wo immer diese Person hingeht. Auch die Landverheißung macht ihn nicht zum Gott eines Landes, das dann das allein Seinige wäre. Sie zeigt vielmehr, daß er Länder vergeben kann, wie er will. Wir können also sagen: Der Person-Gott wirkt translokal. Dazu kommt als zweites, daß er auch transtemporal wirkt, ja, seine Sprech- und Handlungsweise ist wesentlich das Futur. Seine Dimension scheint - vorerst jedenfalls -hauptsächlich die Zukunft zu sein, denn an Gegenwart gibt er recht wenig. Alles Wesentliche ist in der Kategorie der Verheißung des Kommenden gegeben - der Segen, das Land. Das bedeutet, daß er offenkundig über die Zukunft, über die Zeit verfugen kann. Für den betreffenden Menschen bringt dies eine Haltung ganz eigener Art mit sich. Er muß immer über das Gegenwärtige hinaus leben, Leben im Ausgestrecktsein auf ein anderes, Größeres. Die Gegenwart wird relativiert. Wenn man schließlich - das könnte ein drittes Element sein - die besondere Eigenart eines Gottes, sein Anderssein gegenüber anderen und anderem mit dem Begriff »Heiligkeit« benennt, so wird sichtbar, daß diese seine Heiligkeit, sein Selbstsein etwas mit der Würde des Menschen, mit seiner moralischen Integrität zu tun hat, wie die Geschichte von Sodom und Gomorrha zeigt. In ihr kommt einerseits die Nachsicht, die Güte dieses Gottes zum Vorschein, der um einiger Guter willen auch die Bösen zu schonen bereit ist; aber es kommt zugleich das Nein zur Störung der Menschenwürde zum Vorschein, das sich gerade im Gericht über die beiden Städte auswirkt. (Fs) (notabene)
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