Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz Stichwort: Pragmatismus im kirchlichen Alltag; Mehrheitsprinzip, Liturgie
Kurzinhalt: Der Auszug vieler aus dem Glauben beruht darauf, daß ihnen scheint, der Glaube könne von irgendwelchen Instanzen festgelegt werden, er sei eine Art Parteiprogramm ...
Textausschnitt: Der Pragmatismus im kirchlichen Alltag
104b Neben diesen radikalen Lösungen und neben dem großen Pragmatismus der Befreiungstheologien gibt es aber auch den grauen Pragmatismus des kirchlichen Alltags, bei dem scheinbar alles mit rechten Dingen zugeht, in Wirklichkeit aber der Glaube verbraucht wird und ins Schäbige absinkt. Ich denke an zwei Phänomene, die ich mit Sorge betrachte. Da ist zum einen in unterschiedlichen Intensitätsstufen der Versuch, das Mehrheitsprinzip auf Glaube und Sitte auszudehnen, die Kirche also endlich entschieden zu »demokratisieren«. Was der Mehrheit nicht einleuchtet, kann nicht verbindlich sein, so scheint es. Welcher Mehrheit eigentlich? Wird es morgen eine andere sein als heute? Ein Glaube, den wir selbst festlegen können, ist überhaupt kein Glaube. Und keine Minderheit hat einen Grund, sich durch eine Mehrheit Glauben vorschreiben zu lassen. Der Glaube und seine Praxis kommen entweder vom Herrn her durch die Kirche und ihre sakramentalen Dienste zu uns, oder es gibt ihn gar nicht. Der Auszug vieler aus dem Glauben beruht darauf, daß ihnen scheint, der Glaube könne von irgendwelchen Instanzen festgelegt werden, er sei eine Art Parteiprogramm; wer Macht habe, verfuge, was zu glauben sei, und so komme es darauf an, in der Kirche selbst an die Macht zu kommen, oder aber - logischer und einleuchtender - eben nicht zu glauben. (Fs) (notabene)
105a Der andere Punkt, auf den ich hinweisen wollte, betrifft die Liturgie. Die verschiedenen Phasen der Liturgiereform haben die Meinung aufkommen lassen, Liturgie könne beliebig verändert werden. Wenn es Unveränderliches gebe, so allenfalls die Wandlungsworte, alles andere könne man auch anders machen. Der nächste Gedanke ist logisch: Wenn eine zentrale Behörde das kann, warum nicht auch lokale Instanzen? Und wenn lokale Instanzen, warum eigentlich nicht die Gemeinde selbst? Sie müßte sich doch in der Liturgie ausdrücken und wiederfinden. Nach dem rationalistischen und puritanischen Trend der siebziger und auch noch der achtziger Jahre ist man heute der reinen Redeliturgien müde und möchte die Erlebnis-Liturgie, die sich sehr bald den Tendenzen von New Age annähert: Das Rauschhafte und Ekstatische wird gesucht, nicht die logikE latreia, die rationabilis oblatio (der vernunftgeformte, logosgemäße Gottesdienst), wovon Paulus und mit ihm die römische Liturgie spricht (Röm 12,1). (Fs)
105b Zugegeben, ich überzeichne; was ich sage, beschreibt nicht die normale Situation unserer Gemeinden. Aber die Tendenzen sind da. Und darum ist Wachheit geboten, damit uns nicht unter der Hand ein anderes Evangelium als das vom Herrn geschenkte - Steine statt Brot -untergeschoben werde. (Fs)
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