Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz Stichwort: Orthodoxie und Orthopraxie;
Kurzinhalt: Knitter: Das Absolute kann man nicht begreifen, wohl aber tun. Die Frage ist: Wieso eigentlich?
Textausschnitt: Orthodoxie und Orthopraxie
99a Zu solchem Durchtasten auf die Weisheit, die in der Torheit des Glaubens liegt, hilft es, wenn wir uns wenigstens im Ansatz darüber zu vergewissern suchen, wozu nun die relativistische Religionstheorie von Hick dient, auf welchen Weg sie den Menschen weist. Letzten Endes bedeutet Religion für Hick, daß der Mensch von der »self-centredness« als der Existenz des alten Adam zur »reality-centredness« als der Existenzweise des neuen Menschen übergeht, also sich aus dem eigenen Ich heraus auf das Du des Nächsten hin ausstreckt.1 Das klingt schön, ist aber bei Licht betrachtet inhaltlich so nichtssagend und leer wie Bultmanns Ruf zur Eigentlichkeit, den er aus Heidegger geschöpft hatte. Dazu braucht man Religion nicht. Der ehemalige katholische Priester P. Knitter hat, dies deutlich verspürend, die Leere einer letztlich auf den kategorischen Imperativ reduzierten Religionstheorie durch eine neue und inhaltlich gefülltere, konkretere Synthese zwischen Asien und Europa zu überwinden versucht.2 Sein Vorschlag ist es, der Religion durch eine Verknüpfung der pluralistischen Religionstheologie mit den Befreiungstheologien neue Konkretheit zu geben. Der interreligiöse Dialog soll dadurch radikal vereinfacht und zugleich praktisch wirksam gemacht werden, daß man ihn auf eine einzige Prämisse gründet: »auf den Primat der Orthopraxie vor der Orthodoxie«.3 Diese Überordnung der Praxis über das Erkennen ist auch gut marxistisches Erbe, aber der Marxismus konkretisiert seinerseits nur, was sich aus der Absage an die Metaphysik logisch ergibt: Wo das Erkennen unmöglich ist, bleibt nur noch das Handeln übrig. Knitter: Das Absolute kann man nicht begreifen, wohl aber tun. Die Frage ist: Wieso eigentlich? Woher kommt mir das rechte Handeln, wenn ich überhaupt nicht weiß, was recht ist? Das Scheitern der kommunistischen Regime beruht doch gerade darauf, daß man die Welt verändert hat, ohne zu wissen, was gut ist für die Welt und was nicht; ohne zu wissen, in welcher Richtung sie verändert werden muß, um besser zu werden. Die bloße Praxis ist kein Licht. (Fs)
100a Hier ist der Punkt, an dem der Begriff Orthopraxie kritisch durchleuchtet werden muß. Die ältere Religionsgeschichte hatte festgestellt, daß die Religionen Indiens im allgemeinen keine Orthodoxie, wohl aber Orthopraxie kennen; von daher ist wohl der Begriff in die moderne Theologie geraten. Aber in der Beschreibung der Religionen Indiens hatte er einen ganz bestimmten Sinn: Man wollte damit sagen, daß diese Religionen keine allgemein verbindliche Glaubenslehre kennen und daß die Zugehörigkeit zu ihnen daher nicht mit der Annahme eines bestimmten Credo definiert ist. Wohl aber kennen diese Religionen ein System ritueller Handlungen, das als heilsnotwendig angesehen wird und den »Gläubigen« vom Ungläubigen unterscheidet. Er wird nicht an bestimmten Denkinhalten erkannt, sondern durch die gewissenhafte Befolgung eines das ganze Leben umspannenden Rituals. Was Orthopraxie bedeutet, was also »richtiges Handeln« ist, ist sehr genau festgelegt: ein Kodex von Riten. Übrigens hatte das Wort Orthodoxie in der frühen Kirche und in den Kirchen des Ostens ursprünglich fast dieselbe Bedeutung. Denn bei dem Wortteil »-doxie« war Doxa natürlich nicht im Sinne von »Meinung« (richtige Meinung) verstanden - Meinungen sind nach griechischer Sicht immer relativ; Doxa war vielmehr im Sinn von »Herrlichkeit, Verherrlichung« verstanden. Orthodox sein bedeutete also: Die rechte Weise zu kennen und zu üben, wie Gott verherrlicht werden will. Es ist auf den Kult und vom Kult her auf das Leben bezogen. Insofern gäbe es hier sehr wohl eine tragfähige Brücke für einen fruchtbaren Dialog zwischen Ost und West. (Fs)
101a Aber kehren wir zur Aufnahme des Wortes Orthopraxie in die moderne Theologie zurück. Hier dachte niemand mehr an die Befolgung eines Rituals. Das Wort gewann also eine durchaus neue Bedeutung, die mit den authentischen Vorstellungen Indiens nichts zu tun hat. Eines bleibt freilich: Wenn die Forderung nach Orthopraxie einen Sinn haben und nicht das Feigenblatt für Unverbindlichkeit sein soll, dann muß es auch eine für jedermann erkennbare gemeinsame Praxis geben, die über das allgemeine Gerede von Ich-Zentrierung und Du-Beziehung hinausgeht. Schließt man den rituellen Sinn aus, der in Asien gemeint war, so kann »Praxis« ethisch oder politisch verstanden werden. Orthopraxie würde im ersten Fall ein inhaltlich klar definiertes Ethos voraussetzen. Das wird freilich in der relativistischen Ethik-Diskussion durchaus ausgeschlossen: Das an sich Gute und das an sich Schlechte gebe es nun einmal nicht. Versteht man die Orthopraxie aber politisch-gesellschaftlich, dann ist wiederum die Frage, was richtiges politisches Handeln sei. Befreiungstheologien, die von der Überzeugung beseelt waren, der Marxismus sage uns deutlich, was die rechte politische Praxis ist, konnten den Begriff Orthopraxie sinnvoll gebrauchen. Hier gab es nicht Unverbindlichkeit, sondern eine für alle festliegende Form der richtigen Praxis, also wahre Orthopraxie, die die Gemeinschaft zusammenschloß und von denen unterschied, die sich dem richtigen Handeln versagten. Insofern waren die marxistisch bestimmten Befreiungstheologien auf ihre Weise logisch und konsequent. Wie man sieht, liegt aber dieser Orthopraxie durchaus eine gewisse Orthodoxie (im modernen Sinn) zugrunde - ein Gerüst verbindlicher Theorien über den Weg zur Freiheit. Knitter bleibt in der Nähe dieses Ansatzes, wenn er sagt, das Kriterium für die Unterscheidung der Orthopraxie von der Pseudopraxie sei die Freiheit.4 Aber er bleibt uns schuldig, uns überzeugend und praktisch zu erklären, was Freiheit ist und was der wirklichen Befreiung des Menschen dient: die marxistische Orthopraxie gewiß nicht - das haben wir gesehen. Eines aber ist deutlich: Die relativistischen Theorien münden durchweg im Unverbindlichen und machen sich so selbst überflüssig, oder aber sie geben doch absolute Maßstäbe vor, die nun in der Praxis liegen und Absolutismen genau da aufrichten, wo sie in der Tat keinen Platz haben können. Tatsache ist freilich, daß heute auch in Asien zusehends befreiungstheologische Konzeptionen als vermeintlich mehr dem asiatischen Geist entsprechende Formen des Christentums dargeboten werden, die den Kern des religiösen Handelns in den politischen Bereich verlegen. Wo das Mysterium nicht mehr zählt, muß Politik zur Religion werden. Dem ursprünglichen Religionsverständnis Asiens ist freilich gerade dies zutiefst entgegengesetzt. (Fs)
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