Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz Stichwort: Krise: Theologie der Befreiung, Befreiungstheologie
Kurzinhalt: Wo Politik Erlösung sein will, verspricht sie zuviel. Wo sie das Werk Gottes tun möchte, wird sie nicht göttlich, sondern dämonisch.
Textausschnitt: Die Krise der Theologie der Befreiung
93a In den 1980er Jahren erschien die Befreiungstheologie in ihren radikalen Formen als die dringendste Herausforderung an den Glauben der Kirche, die Antwort und Klärung verlangte. Denn sie bot eine neue, plausible und zugleich praktische Antwort auf die Grundfrage des Christentums an: die Frage nach der Erlösung. Das Wort Befreiung sollte ja nur auf andere, verständlichere Weise dasselbe ausdrücken, was in der herkömmlichen Sprache der Kirche Erlösung genannt worden war. In der Tat liegt immer dieselbe Frage zugrunde: Wir erfahren eine Welt, die nicht so ist, daß sie einem guten Gott entspricht. Armut, Unterdrückung, Unrechtsherrschaft aller Art, das Leid der Gerechten und der Unschuldigen sind die Zeichen der Zeit - aller Zeit. Und jeder einzelne leidet, keiner kann einfach zu dieser Welt und zu seinem eigenen Leben sagen: Verweile doch, du bist so schön. Die Befreiungstheologie sagte auf diese unsere Erfahrungen hin: Dieser Zustand, der nicht bleiben darf, kann nur überwunden werden durch radikale Veränderung der Strukturen unserer Welt, die Strukturen der Sünde, Strukturen des Bösen sind. Wenn also die Sünde ihre Macht über die Strukturen ausübt und von ihnen her die Verelendung vorprogrammiert ist, dann kann ihre Überwindung nicht durch individuelle Bekehrung geschehen, sondern nur durch den Kampf gegen die Strukturen des Unrechts. Dieser Kampf aber, so wurde gesagt, müsse ein politischer Kampf sein, weil die Strukturen durch die Politik verfestigt und gehalten werden. So wurde Erlösung zu einem politischen Prozeß, für den die marxistische Philosophie die wesentlichen Wegweisungen bot. Sie wurde zu einer Aufgabe, die die Menschen selbst in die Hand nehmen können, ja, müssen, und sie wurde damit zugleich zu einer ganz praktischen Hoffnung: Glaube wurde aus »Theorie« zu Praxis, zu konkretem, erlösendem Tun im Befreiungsprozeß. (Fs) (notabene)
94a Der Zusammenbruch der marxistisch inspirierten Regierungssysteme Europas war für diese Theologie erlösender politischer Praxis eine Art Götterdämmerung: Gerade dort, wo die marxistische Befreiungsideologie konsequent angewandt worden war, war die radikale Unfreiheit entstanden, deren Schrecknisse nun unbeschönigt vor den Augen der Weltöffentlichkeit sichtbar wurden. Wo Politik Erlösung sein will, verspricht sie zuviel. Wo sie das Werk Gottes tun möchte, wird sie nicht göttlich, sondern dämonisch. Die politischen Ereignisse von 1989 haben damit auch die theologische Szenerie verändert. Der Marxismus war der bisher letzte Versuch gewesen, eine allgemein gültige Formel für die richtige Gestaltung geschichtlichen Handelns zu geben. Er glaubte, die Baugestalt der Weltgeschichte zu kennen und daher zeigen zu können, wie diese Geschichte endgültig auf den richtigen Weg gebracht werden könne. Daß er dies mit scheinbar streng wissenschaftlichen Methoden untermauerte und daher Glauben ganz durch Wissen ersetzte und Wissen zu Praxis machte, verlieh ihm seine ungeheure Faszination. Alle unerfüllten Verheißungen der Religionen schienen durch eine wissenschaftlich begründete politische Praxis einlösbar. Der Sturz dieser Hoffnung mußte eine ungeheure Ernüchterung mit sich bringen, die noch längst nicht verarbeitet ist. Ich halte es für durchaus denkbar, daß neue Formen des marxistischen Weltbildes auf uns zukommen werden. Fürs erste blieb Ratlosigkeit zurück. Das Versagen des einzigen Systems einer wissenschaftlich fundierten Lösung der menschlichen Probleme konnte nur den Nihilismus oder jedenfalls den totalen Relativismus ins Recht setzen. (Fs)
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