Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz Stichwort: Kultur: Inkulturation - Inkulturation, Begegnung von Kulturen
Kurzinhalt: Warum sind alle Kulturen einerseits nur partikulär und daher alle voneinander verschieden; warum sind sie aber zugleich alle aufeinander offen, zu gegenseitiger Reinigung und Verschmelzung befähigt?
Textausschnitt: 52b Dieser kleine Versuch, Grundkategorien des Begriffs Kultur zu klären, hilft uns nun bereits, die Frage nach der möglichen Weise ihrer Berührung und Verschmelzung besser zu verstehen. Wir können jetzt sagen, daß die Bindung von Kultur an eine kulturelle Individualität, an ein bestimmtes Kultursubjekt, die Vielheit der Kulturen und auch ihre jeweilige Besonderheit, ihre Partikularität begründet. Wir können umgekehrt feststellen, daß ihre Geschichtlichkeit, ihre Bewegung mit der Zeit und in der Zeit ihre Offenheit einschließt. Die einzelnen Kulturen leben nicht nur ihre eigene Erfahrung von Gott, Welt und Mensch, sondern sie treffen auf ihrem Weg notwendig mit den anderen Kultursubjekten zusammen und müssen sich deren andersgearteten Erfahrungen stellen. So kommt es je nach Verschlossenheit oder Öffnung, je nach der inneren Enge oder Weite eines Kultursubjekts zur Vertiefung und Reinigung der eigenen Erkenntnisse und Wertungen. Das kann zu einer tiefgehenden Umwandlung der bisherigen Kulturgestalt führen, die aber keineswegs Vergewaltigung oder Entfremdung sein muß. Im positiven Fall erklärt sie sich aus der potentiellen Universalität aller Kulturen, die sich in der Aufnahme des anderen und in der Veränderung des eigenen konkretisiert. Ein solcher Vorgang kann geradezu dazu führen, daß die stillen Entfremdungen des Menschen von der Wahrheit und von sich selbst aufgebrochen werden, die in einer Kultur liegen. Er kann das heilende Pascha einer Kultur sein, die im scheinbaren Sterben aufersteht und erst ganz sie selber wird. (Fs)
53a Demnach sollten wir nun eigentlich nicht mehr von Inkulturation, sondern von Begegnung der Kulturen oder - wenn ein Fremdwort nötig sein sollte - von Interkulturalität sprechen. Denn Inkulturation setzt voraus, daß ein gleichsam kulturell nackter Glaube sich in eine religiös indifferente Kultur versetzt, wobei sich zwei bisher fremde Subjekte begegnen und nun eine Synthese miteinander eingehen. Aber diese Vorstellung ist zunächst einmal künstlich und irreal, weil es den kulturfreien Glauben nicht gibt und weil es die religionsfreie Kultur außerhalb der modernen technischen Zivilisation nicht gibt. Vor allem aber ist nicht zu sehen, wie zwei einander an sich völlig fremde Organismen in einer Transplantation, die zunächst beide verstümmelt, plötzlich ein lebensfähiges Ganzes werden sollten. Nur wenn die potentielle Universalität aller Kulturen und ihre innere Offenheit aufeinander hin gilt, kann Interkulturalität zu fruchtbaren neuen Gestalten führen. (Fs) (notabene)
53b Mit allem Bisherigen haben wir uns sozusagen im Phänomenologischen aufgehalten, das heißt wir haben registriert, wie Kulturen wirken und sich entwickeln, und wir haben dabei als wesentlichen Grundgedanken für eine Geschichte, die auf Vereinigungen abzielt, die potentielle Universalität aller Kulturen festgestellt. Aber nun steht die Frage auf: Warum ist das so? Warum sind alle Kulturen einerseits nur partikulär und daher alle voneinander verschieden; warum sind sie aber zugleich alle aufeinander offen, zu gegenseitiger Reinigung und Verschmelzung befähigt? Ich möchte hier nicht auf die positivistischen Antworten eingehen, die es natürlich auch gibt. Mir scheint, daß gerade hier der Verweis auf das Metaphysische gar nicht abzubiegen ist. Begegnung der Kulturen ist möglich, weil der Mensch in allen Verschiedenheiten seiner Geschichte und seiner Gemeinschaftsbildungen ein einziger ist, ein und dasselbe Wesen. Dieses eine Wesen Mensch wird aber in der Tiefe seiner Existenz von der Wahrheit selber berührt. Nur aus dem verborgenen Angerührtsein unserer Seelen von der Wahrheit erklärt sich die grundsätzliche Offenheit aller aufeinander und erklären sich die wesentlichen Übereinstimmungen, die es auch zwischen den entferntesten Kulturen gibt. Die Verschiedenheit aber, die bis zur Verschlossenheit führen kann, rührt zunächst einmal aus der Endlichkeit des menschlichen Geistes: Keiner faßt das Ganze, aber in vielfältigen Erkenntnissen und Gestalten formen sie sich zu einer Art Mosaik zusammen, das die Komplementarität aller aufeinander hin anzeigt: Um zum Ganzen zu kommen, bedürfen alle aller. Nur im Zueinander aller großen kulturellen Schöpfungen nähert sich der Mensch der Einheit und Ganzheit seines Wesens. (Fs)
54a Freilich kann es bei dieser optimistischen Diagnose allein nicht bleiben. Denn die potentielle Universalität der Kulturen findet sich immer wieder vor schier unübersteiglichen Hindernissen, wenn sie in eine faktische Universalität übergehen soll. Es gibt nicht nur die Dynamik des Gemeinsamen, es gibt auch durchaus das Trennende, die Sperre gegeneinander, den ausschließenden Widerspruch, die Unmöglichkeit des Übergangs, weil die trennenden Wasser viel zu tief sind. Wir haben vorhin von der Einheit des menschlichen Wesens und von seinem verborgenen Berührtsein durch die Wahrheit, durch Gott gesprochen. Wir sind nun zur Feststellung geführt, daß es demgegenüber auch einen Negativ-Faktor in der menschlichen Existenz geben muß: eine Entfremdung, die Erkenntnis hindert und die Menschen wenigstens partiell von der Wahrheit und damit auch voneinander abschneidet. In diesem unleugbaren Faktor der Entfremdung liegt die Not allen Ringens um Begegnung der Kulturen. Daraus ergibt sich auch, daß unrecht hat, wer in den Religionen der Erde nur tadelnswerten Götzendienst sieht, daß aber auch unrecht hat, wer die Religionen nur positiv werten möchte und plötzlich die Religionskritik vergißt, die uns bis vor kurzem nicht nur von Feuerbach und Marx, sondern von so großen Theologen wie Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer in die Seele gebrannt war. (Fs)
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