Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz Stichwort: Kultur: Definition; Elemente der Definition Kurzinhalt: Kultur ist die geschichtlich gewachsene gemeinschaftliche Ausdrucksgestalt der das Leben einer Gemeinschaft prägenden Erkenntnisse und Wertungen.
Textausschnitt: 50a An dieser Stelle können wir nun so etwas wie eine Definition von Kultur versuchen. Wir könnten sagen: Kultur ist die geschichtlich gewachsene gemeinschaftliche Ausdrucksgestalt der das Leben einer Gemeinschaft prägenden Erkenntnisse und Wertungen. Versuchen wir nun, die einzelnen Elemente dieser Definition etwas näher zu bedenken, um so auch den möglichen Austausch der Kulturen besser begreifen zu können, der unter dem Stichwort Inkulturation gemeint sein muß. (Fs)
a) Kultur hat zunächst einmal mit Erkenntnis und mit Werten zu tun. Sie ist ein Versuch, die Welt und in ihr die Existenz des Menschen zu verstehen, aber ein Versuch nicht rein theoretischer Art, sondern vom fundamentalen Interesse unserer Existenz geleitet. Das Verstehen soll uns zeigen, wie man das macht, das Menschsein, wie der Mensch sich richtig in diese Welt einfügt und auf sie antwortet, um so sich selbst zu gewinnen, seine Existenz zum Gelingen, zum Glück zu führen. Diese Frage wiederum ist in den großen Kulturen nicht individualistisch gemeint, als könne der jeweils einzelne für sich ein Modell der Bewältigung von Welt und Leben erdenken. Er kann es nur mit den anderen; die Frage nach der rechten Erkenntnis ist also Frage auch nach der rechten Gestaltung der Gemeinschaft. Diese ist ihrerseits die Voraussetzung dafür, daß das Leben des einzelnen glücken kann. In der Kultur geht es um ein Verstehen, das Erkenntnis ist, die Praxis eröffnet, also um eine Erkenntnis, zu der die Dimension der Werte, des Moralischen, unabdingbar gehört. Noch eins müssen wir hinzufugen, was für die alte Welt selbstverständlich war: In der Frage nach dem Menschen und nach der Welt ist immer die Frage nach der Gottheit als die vorausgehende und eigentlich grundlegende Frage eingeschlossen. Man kann gar nicht die Welt verstehen, und man kann nicht richtig leben, wenn die Frage nach dem Göttlichen unbeantwortet bleibt. Ja, der Kern der großen Kulturen ist es, daß sie Welt interpretieren, indem sie die Beziehung zum Göttlichen ordnen. (Fs)
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b) Kultur im klassischen Sinn schließt also die Überschreitung des Sichtbaren, des Erscheinenden auf die eigentlichen Gründe hin ein und ist in ihrem Kern Öffnung der Tür zum Göttlichen. Damit ist (wie wir schon gesehen haben) das andere verbunden, daß in ihr der einzelne sich überschreitet und sich in einem größeren gemeinschaftlichen Subjekt mitgetragen findet, dessen Erkenntnisse er gleichsam zu leihen nehmen und dann freilich auch seinerseits forttragen und entfalten kann. Kultur ist immer gebunden an ein gemeinschaftliches Subjekt, das die Erfahrungen der einzelnen in sich aufnimmt und sie umgekehrt vorprägt. Das gemeinschaftliche Subjekt verwahrt und entfaltet Erkenntnisse, die über das Vermögen des einzelnen hinausgehen - Einsichten, die als vorrational und überrational gekennzeichnet werden können. Die Kulturen berufen sich dabei auf die Weisheit der »Alten«, die den Göttern näher standen; auf anfängliche Überlieferungen, die Offenbarungscharakter haben, also nicht nur aus dem Fragen und Nachdenken des Menschen stammen, sondern aus einer ursprünglichen Berührung mit dem Grund aller Dinge, auf einer Mitteilung vom Göttlichen her.1 Die Krise eines Kultursubjekts entsteht dann, wenn es ihm nicht mehr gelingt, diese überrationale Vorgabe mit kritischer neuer Erkenntnis in eine überzeugende Verbindung zu bringen. Dann wird der Wahrheitscharakter der Vorgabe zweifelhaft, sie wird aus Wahrheit zu bloßer Gewohnheit und verliert ihre Lebenskraft. (Fs)
c) Damit ist ein Weiteres schon angedeutet: Gemeinschaft schreitet in der Zeit voran, und deshalb hat Kultur mit Geschichte zu tun. Kultur entfaltet sich auf ihrem Weg durch die Begegnung mit neuer Wirklichkeit und die Verarbeitung neuer Erkenntnis. Sie steht nicht abgeschlossen in sich selbst, sondern in der Dynamik des Zeitflusses, zu dem wesentlich das Zueinanderfließen der Ströme, Prozesse der Einigung gehören. Geschichtlichkeit der Kultur bedeutet ihre Fähigkeit weiterzugehen, und daran hängt ihre Fähigkeit, sich zu öffnen, durch Begegnung Verwandlung zu empfangen. Zwar unterscheidet man zwischen kosmisch-statischen und geschichtlichen Kulturen. Die alten vorschriftlichen Kulturen würden danach wesentlich das immer gleichbleibende Geheimnis des Kosmos abbilden, während besonders die jüdische und die christliche Kulturwelt den Weg mit Gort als Geschichte verstehe und daher von Geschichte als Grundkategorie geprägt sei. Das ist bis zu einem gewissen Grade richtig, sagt aber doch nicht alles, denn auch die kosmisch ausgerichteten Kulturen verweisen auf Tod und Wiedergeburt, auf das Menschsein als Weg. Als Christen würden wir sagen: Sie tragen eine adventliche Dynamik in sich, auf die wir noch näher zu sprechen kommen müssen.2
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