Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz Stichwort: Kultur; Inkulturation, Offenheit, Universalität Kurzinhalt: Inkulturation setzt also die potentielle Universalität jeder Kultur voraus. Sie setzt voraus, daß in allen das gleiche menschliche Wesen am Werk ist und daß in diesem eine gemeinsame Wahrheit des Menschseins lebt, ... Textausschnitt: 49a Wir werden auf diese Fragen noch einmal wenigstens indirekt zurückkommen; einstweilen sollte mit dem Gesagten nur die Größe des Problems angedeutet werden, dem wir uns jetzt endlich stellen müssen: Was ist das eigentlich - Kultur? Wie steht sie zur Religion, und auf welche Weise kann sie mit religiösen Gestalten in Verbindung treten, die ihr ursprünglich fremd waren? Darauf müssen wir zunächst sagen, daß erst das neuzeitliche Europa einen Begriff von Kultur entwickelt hat, der sie als einen von der Religion unterschiedenen oder gar ihr entgegengesetzten eigenen Bereich erscheinen läßt. In allen bekannten geschichtlichen Kulturen ist Religion wesentliches Element der Kultur, ja, ihre bestimmende Mitte; sie ist es, die das Wertgefüge und damit das innere Ordnungssystem der Kulturen bestimmt. Wenn es aber so steht, erscheint Inkulturation des christlichen Glaubens in andere Kulturen nur um so schwieriger. Denn es ist nicht zu sehen, wie die mit der Religion verflochtene, in ihr webende und lebende Kultur sozusagen in eine andere Religion transplantiert werden könne, ohne daß beide dabei zugrunde gehen. Nimmt man aus einer Kultur die ihr eigene, sie zeugende Religion heraus, so beraubt man sie ihres Herzens; pflanzt man ihr ein neues Herz - das christliche - ein, so scheint es unausweichlich, daß der ihm nicht zugeordnete Organismus das fremde Organ abstößt. Ein positiver Ausgang der Operation scheint schwer vorstellbar. Sinnvoll kann sie eigentlich nur sein, wenn der christliche Glaube und die jeweilige andere Religion samt der aus ihr lebenden Kultur nicht in einem Verhältnis der schlechthinnigen Andersheit zueinander stehen, sondern eine innere Offenheit aufeinander hin in ihnen liegt, oder anders gesagt: wenn die Tendenz, aufeinander zuzugehen und sich zu vereinigen ohnedies in ihrem Wesen begründet ist. Inkulturation setzt also die potentielle Universalität jeder Kultur voraus. Sie setzt voraus, daß in allen das gleiche menschliche Wesen am Werk ist und daß in diesem eine gemeinsame Wahrheit des Menschseins lebt, die auf Vereinigung abzielt. Nochmals anders ausgedrückt: Das Vorhaben der Inkulturation ist nur dann sinnvoll, wenn einer Kultur nicht Unrecht dadurch geschieht, daß sie aus der gemeinsamen Hinordnung auf die Wahrheit des Menschen heraus durch eine neue kulturelle Kraft geöffnet und weiterentwickelt wird. Denn dasjenige an einer Kultur, was solche Öffnung und solchen Austausch ausschließt, ist zugleich das Unzulängliche an ihr, weil Ausschließung des anderen dem Menschen wesenswidrig ist. Die Höhe einer Kultur zeigt sich in ihrer Offenheit, in ihrer Fähigkeit, zu geben und zu empfangen, in ihrer Kraft, sich zu entwickeln, sich reinigen zu lassen und dadurch wahrheitsgemäßer, menschengemäßer zu werden. (Fs) (notabene) |