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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Christentum - Weltreligionen: Religion erster, zweiter Hand

Kurzinhalt: Wenn aber das Entscheidende nicht die eigene geistliche Erfahrung, sondern der göttliche Anruf ist, dann sind letzten Endes alle in der gleichen Lage, die diesem Anruf glauben:

Textausschnitt: 36a
c) Endlich wird von hier aus verständlich, warum die oben (im Abschnitt »Der Ort des Christentums in der Religionsgeschichte«) behandelte Unterscheidung von Religion erster und zweiter Hand, die vom Standpunkt der Mystik aus die einzige wirkliche Unterschiedenheit im Bereich der Religionen darstellt, vom Christentum nicht anerkannt wird bzw. innerhalb des Christentums nicht gilt. Gegen die letztere Behauptung könnte sofort eingewandt werden, daß es doch auch im Christentum den Unterschied gebe zwischen dem Heiligen und dem gewöhnlich Frommen, zwischen dem Mystiker und dem einfachen Gläubigen, dem die unmittelbare Erfahrung des Göttlichen versagt ist. Zweifellos, diesen Unterschied gibt es, aber er ist sekundär. Er bewirkt nicht den Unterschied zwischen zweierlei Besitz von Religion, zwischen Haben der religiösen Wirklichkeit und bloß geliehener Religiosität, die sich mit den Symbolen begnügen muß, weil die Kraft der mystischen Versenkung fehlt. Wenn ich als das Wesen der Religion die Mystik ansehe und alles andere nur als sekundären Ausdruck dessen betrachte, was sich im Heiligtum des mystischen Erlebens zugetragen hat, dann ist in der Tat nur der Mystiker der wirkliche Inhaber der Religion; alle anderen müssen sich dann mit der bloßen Schale begnügen, sind »zweiter Hand«. Wenn aber das Entscheidende nicht die eigene geistliche Erfahrung, sondern der göttliche Anruf ist, dann sind letzten Endes alle in der gleichen Lage, die diesem Anruf glauben: Ein jeder ist in gleicher Weise gerufen. Während in den mystischen Religionen der Mystiker »erster Hand« und der Gläubige »zweiter Hand« ist, ist hier »erster Hand« überhaupt nur Gott selbst. Die Menschen sind samt und sonders zweiter Hand: Hörige des göttlichen Rufs. (Fs)

37a Alles, was gesagt wurde, konnte und sollte nicht dazu dienen, eine handliche rationale Rechtfertigung des christlichen Glaubens im Widerstreit der Religionen zu schaffen. Es ging vielmehr darum, den Ort des Christlichen im Ganzen der Religionsgeschichte etwas deutlicher (und doch noch ungenau genug) zu bestimmen, im Blick auf die anderen uns selbst und unseren eigenen Weg besser zu erkennen. Wenn so das Trennende weitgehend von der Frage her im Vordergrund stand, sollte das Einende doch nicht vergessen sein: daß wir alle Teil einer einzigen Geschichte sind, die auf vielerlei Weisen unterwegs ist zu Gott. Denn das erwies sich uns als die entscheidende Einsicht: Für christliches Glauben ist die Geschichte der Religionen nicht der Kreislauf des ewig Gleichen, der nie das Eigentliche berührt, das stets außerhalb der Geschichte bleibt, sondern der Christ hält die Religionsgeschichte für eine wirkliche Geschichte, für einen Weg, dessen Richtung Fortschritt und dessen Haltung Hoffnung heißt. Und so soll er seinen Dienst tun: als ein Hoffender, der unbeirrbar weiß, daß durch alles Versagen und alle Zwietracht der Menschen hindurch sich das Ziel der Geschichte erfüllt - die Verwandlung des »Tohuwabohu«, mit dem die Welt begann, in die ewige Stadt Jerusalem, in der Gott, der eine, ewige Gott unter den Menschen wohnt und ihnen leuchtet als ihr Licht auf immer (vgl. Offb 21,23; 22,5).

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