Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz Stichwort: Der Ort des Christentums in der Religionsgeschichte; 3-facher Ausbruch aus dem: Mystik, monotheismus, Aufklärung; weder Identität noch totale Verschiedenheit
Kurzinhalt: Fassen wir das Bisherige zusammen, so stellen wir fest, daß es die generelle Identität der Religionen ebensowenig gibt wie ihre beziehungslose Pluralität, sondern daß sich eine Strukturformel herauskristallisieren läßt, ...
Textausschnitt: Der Ort des Christentums in der Religionsgeschichte
22a Der allererste Eindruck, der sich dem Menschen aufdrängt, wenn er in Sachen Religion über die Grenzen des Eigenen hinauszuschauen anfängt, ist der eines unbegrenzten Pluralismus, einer geradezu erdrückenden Vielfalt, die die Frage nach Wahrheit von vornherein als illusorisch erscheinen läßt. Wir haben indessen vorhin schon darauf angespielt, daß sich dieser Eindruck nicht lange hält, sondern alsbald einem anderen weicht: dem einer verborgenen Identität der religiösen Räume, die sich wohl in den Namen und den vordergründigen Bildern, nicht aber in den großen Grundsymbolen und dem letztlich damit Gemeinten unterscheiden. Dieser Eindruck ist weithin richtig. Es gibt in der Tat einen breiten religiösen Raum, in dem die Gemeinsamkeit der »geistlichen Erfahrung« (mit Radhakrishnan zu sprechen) entscheidender ist als die Unterschiedenheit der äußeren Formen. Ausdrücklich oder unbewußt steht eine Vielzahl von Religionen in einer tiefgehenden geistigen Kommunikation untereinander, die in der Antike sich ausdrückte in der Leichtigkeit, mit der die Göttergestalten von Religion zu Religion ausgetauscht, »übersetzt«, als gleichbedeutend identifiziert werden konnten: Die Verschiedenheit der Religionen ähnelt hier der Verschiedenheit von Sprachen, die ineinander übersetzbar, weil auf dieselbe Denkstruktur bezogen sind. Ein ähnliches, wenn auch nicht ganz gleichartiges Empfinden spricht sich aus, wenn asiatische Religionen gleichzeitig ineinander existieren können: wenn jemand z. B. gleichzeitig Buddhist und Konfuzianer, Buddhist und Shintoist sein kann. (Fs)
22b So wächst, wie wir vorhin schon sahen, aus dem Eindruck vollkommener Pluralität, der sozusagen ein erstes Stadium der Betrachtung darstellt, in einem zweiten Stadium der Eindruck letzter Identität hervor. Die moderne Religionsphilosophie ist überzeugt, daß sie sogar den Grund für diese verborgene Identität angeben kann. Nach ihrer Auffassung nimmt alle Religion, die es gibt, soweit sie »echt« ist, ihren Ausgangspunkt aus jener Form innerer Erfahrung des Göttlichen, wie sie in letzter Gemeinsamkeit von den Mystikern aller Zeiten und Zonen immer wieder erlebt wurde und wird. Alle Religion würde im letzten auf dem Erleben des Mystikers beruhen, der allein direkten Kontakt mit dem Göttlichen gewinnt und davon weitergibt an die vielen, die zu solchem Erfahren nicht befähigt sind.1 Religion würde demnach in der Menschheit in zweifacher (und nur in zweifacher) Gestalt bestehen: in der direkten Form der Mystik als Religion »erster Hand« und sodann in der indirekten Form der vom Mystiker nur »geliehenen« Erkenntnis, d. h. des Glaubens, und so als Religion »zweiter Hand«. Die artikulierte und formulierte Religion der vielen wäre dann Religion zweiter Hand, bloße Partizipation am an sich bildlosen mystischen Erlebnis, dessen sekundäre Übersetzung in eine vielfältig wechselnde Formensprache, aber ohne zusätzliche eigene Bedeutung.2 Es ist klar, daß diese mystische Interpretation der Religion den Hintergrund bildet für das, was vorhin als der Religionsbegriff des heutigen Menschen skizziert wurde, dessen Sinn und Recht mit dieser Reduktion der Religion auf die Mystik steht und fällt. (Fs) (notabene)
23a So wird jetzt endlich der Ansatzpunkt eines theologischen Weiterfragens deutlicher, das wir nunmehr in die ganz konkrete Frage nach dem Recht der mystischen Religionsinterpretation kleiden können. Es steht außer Zweifel, daß diese einen großen Teil des religiösen Phänomens richtig erfaßt, daß es - wie schon gesagt - eine geheime Identität in der vielgestaltigen Welt der Religionen gibt. Aber es ist ebenso sicher, daß sie nicht das Ganze erfaßt, sondern, falls sie das wollte, auf eine falsche Vereinfachung hinausliefe. Wenn man die Gesamtheit der Religionsgeschichte (soweit sie uns bekannt ist) ins Auge faßt, kommt man zu einem viel weniger statischen Eindruck, man stößt auf eine viel größere Dynamik wirklicher Geschichte (die Fortschritt, nicht immerwährende symbolische Wiederholung des Gleichen ist); die einfache Identität, auf die der mystische Gedanke führt, zerbricht zugunsten einer bestimmten, heute durchaus überschaubar gewordenen Struktur, wobei der mystische Weg sich als ein ganz bestimmter unter mehreren herauskristallisiert, an einer ganz bestimmten Stelle der Religionsgeschichte auftritt und eine ganze Reihe von Entwicklungen voraussetzt, die von ihm unabhängig sind. (Fs) (notabene)
24a Da ist zunächst das Stadium der frühen (sog. primitiven) Religionen vorgelagert, welches dann in das Stadium der mythischen Religionen übergeht, in denen die verstreuten Erfahrungen der Frühe in eine zusammenhängende Gesamtanschauung gesammelt werden. Beide Stadien haben mit Mystik im engeren Sinn nichts zu tun, beide bilden aber zusammen das breite Vorfeld der Religionsgeschichte, das als Unterstrom des Ganzen fortwährend bedeutsam bleibt. Wenn demnach der erste große Schritt der Religionsgeschichte im Übergang von den verstreuten Erfahrungen der Primitiven zum großangelegten Mythos besteht, so liegt der zweite, entscheidende und die Religion der Gegenwart bestimmende Schritt im Ausbruch aus dem Mythos. Dieser Schritt geschah geschichtlich in drei Weisen:
1. In der Form der Mystik, in der der Mythos als bloße symbolische Form desillusioniert und die Absolutheit des unnennbaren Erlebnisses aufgerichtet wird. Faktisch erweist sich die Mystik dann allerdings als mythen-konservierend, sie gibt eine neue Begründung für den Mythos, den sie nun als Symbol des Eigentlichen auslegt. (Fs)
2. Die zweite Form ist die der monotheistischen Revolution, deren klassische Gestalt in Israel vorliegt. In ihr wird der Mythos als menschliche Eigenmacht abgewiesen. Es wird die Absolutheit des im Propheten ergehenden göttlichen Anrufs behauptet. (Fs)
3. Dazu kommt als drittes die Aufklärung, deren erster großer Vollzug in Griechenland geschah: In ihr wird der Mythos als vorwissenschaftliche Erkenntnisform überwunden und die Absolutheit der rationalen Erkenntnis aufgerichtet. Das Religiöse wird bedeutungslos, höchstens bleibt ihm eine gewisse rein formale Funktion im Sinne eines politischen (= auf die Polis bezogenen) Zeremoniells. (Fs)
24b Der dritte Weg ist erst in der Neuzeit, ja eigentlich erst in der Gegenwart zu seiner vollen Kraft gekommen und scheint noch immer seine eigentliche Zukunft erst vor sich zu haben. Sein Besonderes ist, daß er nicht einen Weg im Innern der Religionsgeschichte darstellt, sondern vielmehr deren Beendigung will und aus ihr als aus einer überholten Sache herausführen möchte. Dennoch (oder gerade deshalb) steht er keineswegs beziehungslos zur Religionsgeschichte; im Gegenteil, man wird sagen müssen, daß es für die Zukunft der Religion und ihre Chancen in der Menschheit von entscheidender Bedeutung sein wird, wie sie ihr Verhältnis zu diesem »dritten Weg« einzurichten vermag. Es ist bekannt, daß es in der Zeit der alten Kirche dem Christentum (dem zweiten Weg in unserer Aufstellung) gelungen war, sich verhältnismäßig eng mit den Kräften der Aufklärung zu verbinden. Heute beruht die Wirkung Radhakrishnans und seiner Konzeption sicher nicht nur auf deren religiöser Kraft, sondern auf der erstaunlichen Allianz mit dem, was man heute mutatis mutandis die Kräfte der Aufklärung nennen darf. (Fs)
25a Fassen wir das Bisherige zusammen, so stellen wir fest, daß es die generelle Identität der Religionen ebensowenig gibt wie ihre beziehungslose Pluralität, sondern daß sich eine Strukturformel herauskristallisieren läßt, die das Moment der Geschichtlichkeit (des Werdens, der Entwicklung), das Moment durchgängiger Bezogenheit und dasjenige realer, unreduzierbarer Verschiedenheiten umgreift. Schematisch ließe sich diese Geschichte demnach so darstellen:
Primitive Erfahrungen
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Mythische Religionen
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dreifacher Ausbruch aus dem Mythos:
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Mystik Monotheistische Revolution Aufklärung
25b In diesem Grundschema dürfte das Ergebnis eingefangen sein, zu dem eine »Kritik der historischen Vernunft« in Sachen Religion führen kann. Es liegt, wie gesagt, zwischen dem Gedanken einer grenzenlosen Pluralität und einer grenzenlosen Identität, um uns statt dessen auf eine begrenzte Zahl von Strukturen zu verweisen, die einer bestimmten geistigen Entwicklung eingeordnet sind. Ferner hat sich ergeben, daß das Aufstellen einer Absolutheit nicht, wie gewöhnlich angenommen, eine Eigentümlichkeit allein des »montheistischen« Weges ist, sondern allen drei Wegen eignet, auf denen der Mensch den Mythos verlassen hat. Wie der »Monotheismus« die Absolutheit des von ihm gehörten göttlichen Anrufs behauptet, so geht die Mystik von der Absolutheit der »spiritual experience« als dem allein Wirklichen in allen Religionen aus, demgegenüber sie alles Sagbare und Formulierbare als sekundäre, austauschbare Symbolgestalt hinstellt. Hier liegt wohl der eigentliche Punkt des Mißverständnisses zwischen dem von der Identitätstheologie der spiritualistischen Mystik hingerissenen Menschen von heute und dem Christentum. Der heutige Mensch (wir bleiben einfachheitshalber bei dieser Sammelbezeichnung) fühlt sich abgestoßen von der Absolut-heitsbehauptung des Christentums, die ihm angesichts so vieler ihm wohlbekannter geschichtlicher Relativitäten wenig glaubhaft erscheint, er fühlt sich um so mehr verstanden und angezogen von dem Symbolismus und Spiritualismus eines Radhakrishnan, der die Relativität aller artikulierbaren religiösen Aussagen und die Letztgültigkeit einzig und allein der nie adäquat zu sagenden geistlichen Erfahrung lehrt, die (obzwar gestuft auftretend) allenthalben ein und dieselbe sei. So einsichtig eine solche Option auch ist, sie beruht dennoch auf einem Kurzschluß. Denn nur scheinbar stellt Radhakrishnan dem Parteistandpunkt des Christen eine überparteiliche Offenheit für alles Religiöse gegenüber; in Wahrheit geht er wie dieser von einer Absolutheitslehre aus, von derjenigen nämlich, die seiner religiösen Struktur zugeordnet ist und die für das Christliche (überhaupt für jede Art von eigentlichem »Monotheismus«) keine geringere Zumutung darstellt als die christliche Absolutheit für seinen Weg. Denn er lehrt die Absolutheit des bildlosen geistlichen Erlebens, die Relativität alles Übrigen; der Christ leugnet die Alleingültigkeit der mystischen Erfahrung und lehrt die Absolutheit des in Christus hörbar gewordenen göttlichen Anrufs. Ihm die Absolutheit der Mystik als allein letztverbindlicher Größe aufzudrängen ist für ihn keine geringere Zumutung als dem Nichtchristen die Absolutheit Christi entgegenzuhalten. (Fs)
26a Endlich wäre hinzuzufügen, daß auch die dritte der von uns festgestellten Größen, die wir als »Aufklärung« benannten, womit der Durchbruch einer auf streng rationale Wirklichkeitserfassung gerichteten Einstellung bezeichnet werden sollte, ihre eigene Absolutheit hat: die Absolutheit der rationalen (»wissenschaftlichen«) Erkenntnis. Wo Wissenschaft zur Weltanschauung wird (und genau dieser Fall soll hier mit dem Wort »Aufklärung« bezeichnet sein), wird diese Absolutheit exklusiv, sie wird zur These von der Alleingeltung wissenschaftlichen Erkennens und wird von daher zur Bestreitung religiöser Absolutheit, die an sich auf ganz anderer Ebene liegt. In diesem Fall wird der Gläubige bzw. einfach der Fromme auf die Schranken auch dieser Absolutheit hinweisen müssen. Sie bewegt sich innerhalb bestimmter kategorialer Grenzen, innerhalb deren sie strenge Geltung hat; aber zu behaupten, daß der Mensch nur innerhalb dieser Grenzen überhaupt erkenne, ist eine unbegründbare Vorentscheidung, die überdies von der Erfahrung Lügen gestraft wird.3 Dabei bleibt aber festzuhalten, daß dieser dritte Weg nur mittelbar in die religiöse Entscheidung hineinreicht, die eigentlich innerreligiöse Problematik trägt sich zwischen dem ersten und zweiten Weg (»Mystik« und »monotheistische Revolution«) zu. Dieser Frage muß daher jetzt noch etwas nachgegangen werden. (Fs)
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