Autor: Lonergan, Bernard J.F. Buch: Die Einsicht Titel: Die Einsicht Bd. I und II Stichwort: Methode der Metaphysik; Grundproblem; polymorphes Bewusstsein; "Jetzt-schon-da-draußen" Kurzinhalt: Dem konkreten Universum des Seins ... steht in zeitlich früherer Vollständigkeit die Welt der Sinne entgegen, in welcher das "Reale" und das "Scheinbare" Unterabteilungen sind innerhalb eines vital vorweggenommenen "Jetzt-schon-da-draußen".
Textausschnitt: 1. Das zugrundeliegende Problem
445a Es dürfte nicht allzu schwer fallen, Gegenthesen zu den in den drei vorhergehenden Kapiteln gezogenen Schlüssen aufzustellen. Der auf intelligenter Untersuchung und kritischer Reflexion aufbauenden Objektivität steht die fraglose1 Ausrichtung des extravertierten biologischen Bewußtseins entgegen und sein unkritisches Überleben nicht nur im dramatischen und praktischen Leben, sondern auch in einem Großteil des philosophischen Denkens. Dem konkreten Universum des Seins, d.h. all dessen, was intelligent erfaßt und vernünftig bejaht werden kann, steht in zeitlich früherer Vollständigkeit die Welt der Sinne entgegen, in welcher das "Reale" und das "Scheinbare" Unterabteilungen sind innerhalb eines vital vorweggenommenen "Jetzt-schon-da-draußen". Der Selbstbejahung eines Bewußtseins, das zugleich empirisch, intellektuell und rational ist, steht die natürliche Verwirrung des existentiellen Subjektes entgegen, das - mit Abscheu gegen die reine Animalität erfüllt, unsicher bezüglich seines Weges durch das Labyrinth der Philosophien - versucht, ohne ein ihm bekanntes Ziel zu leben, das leidet trotz seinem unmotivierten Willen, das bedroht ist vom unausweichlichen Tod, und vor dem Tode, von Krankheit und sogar Wahnsinn. (Fs) (notabene)
445b Die Eigenheit dieser Gegenthesen verdient besondere Aufmerksamkeit. Sie sind nicht einfach in Konflikt stehende Aussagen. Sie sind nicht einfach logische Alternativen, von denen die eine ganz einfach wahr und die andere völlig falsch ist. In jedem Fall haben sowohl These wie Gegenthese ihren Grund in jener konkreten Einheit in Spannung, die der Mensch ist. Denn das menschliche Bewußtsein ist polymorph. Das Muster, nach welchem es fließt, kann biologisch, ästhetisch, artistisch, dramatisch, praktisch, intellektuell oder mystisch sein. Diese Muster lösen sich wechselseitig ab; sie verschmelzen oder vermischen sich; sie können einander beeinträchtigen, in Konflikt geraten, ihren Weg verlieren, zusammenbrechen. Das intellektuelle Muster der Erfahrung wird vorausgesetzt und kommt zum Ausdruck in unserer Darstellung von Selbstbejahung, Sein und Objektivität. Doch niemand wird in dieses Muster hineingeboren; niemand erreicht es leicht; niemand verbleibt permanent in ihm; und wenn ein anderes Muster die Oberhand gewinnt, dann scheint das Ich unserer Selbstbejahung als etwas vom tatsächlichen Selbst recht verschiedenes, das Universum des Seins scheint so unreal wie Platos noetischer Himmel und Objektivität wird spontan zu einer Angelegenheit des Sich-Treffens mit Personen und des Umgangs mit Dingen, die "wirklich da draußen" sind. (Fs) (notabene)
446a Nicht [386] nur sind die Antithesen im polymorphen Faktum eines proteusartigen Bewußtseins begründet, sondern anfänglich herrscht das verwirrende Faktum ohne klare Antithesen. Um zu jener scharfen Formulierung zu gelangen, mußten wir mit der Einsicht beginnen, ihr Funktionieren im Feld der Mathematik, der empirischen Wissenschaft und des Common Sense erforschen, um uns dann dem reflektierenden Verstehen und dem Urteil zuzuwenden, und es dabei stets vermeiden, uns auf die offensichtlich so drängenden Probleme der Natur der Erkenntnis, der Wirklichkeit und der Relation zwischen beiden einzulassen. Sogar bei der Ausarbeitung des Prozesses, der in der Selbstbejahung endet, waren wir noch nicht bereit zu sagen, ob die Selbstbejahung nun die Erkenntnis des Ich bedeutet. Die Selbstbejahung wurde zur Selbsterkenntnis, als erkannt wurde, daß das Sein erkennen es zu bejahen heißt; und das Sein erkennen wurde zu objektiver Erkenntnis durch ein Erfassen der Natur der erfahrungsmäßigen, der normativen, der absoluten Objektivität und der folgenden Hauptobjektivität. (Fs) (notabene)
446b Wenn nun aber auch eine klare und scharfe Formulierung der Antithesen erst am Ende einer langen und schwierigen Forschungsarbeit steht, so ist heute diese Forschungsarbeit doch vorbereitet und gestützt in einer Art und Weise, die in früheren Jahrhunderten nicht zur Verfügung stand. Die Entwicklung der Mathematik, die Reife einiger Zweige der empirischen Wissenschaften, die Untersuchungen der Tiefenpsychologie, das Interesse an historischer Theoriebildung, die von Descartes, Hume und Kant aufgebrachten epistemologischen Probleme, die Konzentration der modernen Philosophie auf Erkenntnisanalyse - all dies dient dazu, eine Untersuchung des menschlichen Verstandes zu erleichtern und zu erleuchten. Wenn es aber für spätere Generationen möglich ist, das zu ernten, was frühere Generationen gesät haben, so gab es dennoch vor und während dem Säen keine Ernte, die geerntet werden konnte. (Fs)
446b Kein Wunder deshalb, daß es viele verschiedene, einander widersprechende und disparate Philosophien gegeben hat. Denn ein solches Erstaunen drückt nur die falsche Annahme aus, daß die Aufgabe der Philosophie darin bestehe, eine einfache Entität durch einen einfältigen Verstand zu beobachten oder auszudrücken. In der Tat ist der Verstand aber polymorph; er muß erst seines Mannigfaltigen Herr werden, ehe er bestimmen kann, was eine Äußerung ist, oder was geäußert wird, oder was die Relation zwischen beiden ist; und wenn er das tut, findet er seine eigene Komplexität an der Wurzel der antithetischen Lösungen. Aus dem Durcheinander der miteinander in Konflikt stehenden philosophischen Definitionen und dem Babel endloser philosophischer Argumente wurde geschlossen, daß das Objekt der Philosophie entweder nicht existiere oder nicht zu erreichen sei. Aber diese Konklusion übersieht zwei Tatsachen. Einerseits waren die Philosophen Menschen von besonderem Scharfsinn und Durchblick. Andererseits können die verschiedenen, einander widersprechenden und disparaten Philosophien verstanden werden als Einzelbeiträge zur Klärung eines grundsätzlichen aber polymorphen Faktums. Weil [387] dieses Faktum fundamental ist, beziehen sich seine Implikationen auf das ganze Universum; weil es aber polymorph ist, begründen seine alternativen Formen verschiedenartige Sätze von Implikationen. (Fs)
447a Derart ist also die Sichtweise, die in der vorliegenden Darstellung der philosophischen Methode entwickelt werden soll. So wie in unseren Ausführungen über die Mathematik, die empirische Wissenschaft und den Common Sense, ist auch hier unser einziges Objekt die Natur und die Tatsache der Einsicht. Philosophen und Philosophien interessieren uns dabei nur als Beispiele und Produkte der untersuchenden Intelligenz und der reflektierenden Vernunft. Aus diesem Gesichtspunkt wird eine Einheit nicht nur des Ursprungs sondern auch des Ziels ihrer Tätigkeiten hervortreten. Diese zweifache Einheit ist der Grund dafür, daß wir in jeder gegebenen Philosophie eine Bedeutung finden können, welche sich über den Horizont des einzelnen Philosophen hinaus erstrecken und - sogar in einer Weise, die er nicht erwartete - zur dauerhaften Entwicklung des menschlichen Verstandes gehören kann. (Fs)
447b Dem Leser ist die Möglichkeit einander widersprechender Beiträge zu einem einzigen Ziele bereits in ihren Hauptlinien bekannt. Neben den direkten Einsichten, welche das Systematische erfassen, gibt es die inversen Einsichten, die sich mit dem Nicht-Systematischen befassen. Wie der Mathematiker, der empirische Wissenschaftler, der Tiefenpsychologe und der Geschichtstheoretiker auf beide Typen von Einsichten angewiesen ist, so ist es auch der Philosoph. Mehr noch, indem der Philosoph sowohl direkte wie auch inverse Einsichten benützt in seinem Überblick und seiner Einschätzung des philosophischen Prozesses, werden sein Verstand und sein Erfassen zum einzigen Zielpunkt, in welchem sich widersprechende Beiträge ihre komplexe Einheit erreichen. Und schließlich läßt sich die heuristische Struktur dieser Einheit durch das Prinzip bestimmen, daß die Positionen zu einer Vorwärtsentwicklung auffordern, die Gegenpositionen hingegen zu einer Umkehrentwicklung. Dieses Prinzip müssen wir jetzt erläutern. (Fs)
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