Autor: Amerio, Romano Buch: Iota Unum Titel: Iota Unum Stichwort: Nachkonzilszeit; keine authentische Erläuterungen des Konzilstexte
Kurzinhalt: Offen über das Konzil hinaus geht man auch dann, wenn der Buchstabe des Konzils nicht beachtet wird und die Reformen dem gesetzgebenden Willen des Konzils zuwiderlaufen.
Textausschnitt: 48. Die Schritte über das Konzil hinaus. Mehrdeutiger Charakter der Konzilstexte
103a Faktisch erfolgt die Überschreitung des Konzils unter Berufung auf den »Konzilsgeist« so, daß man sich bald offen über den Buchstaben hinwegsetzt, bald Begriffe weiter faßt und deren Sinn entstellt. (Fs)
Das offene Überschreiten ist jeweils dann gegeben, wenn in der Nachkonzilszeit als konziliar ausgegebene Leitgedanken entwickelt werden, die in den Konzilstexten keinen Rückhalt finden und dort nicht einmal vom Wort her vorkommen. Die Vokabel »Pluralismus« z.B. ist dort nur dreimal zu finden und jedesmal mit Bezug auf die bürgerliche Gesellschaft1. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff »Authentizität« (im Sinne von a) Glaubwürdigkeit, b) natürliche Offenheit, s. § 88/Anm. d. Übers.) als moralischer und religiöser Wert eines Humanverhaltens. Er erscheint in keinem Dokument, und wenn das Wort »authenticus« achtmal vorkommt, dann noch allemal in der eigentlichen sprachlichen und dem kirchlichen Gebrauch entsprechenden Bedeutung. So steht authentisch in bezug auf die biblischen Schriften, das Lehramt und die Traditionen, niemals aber auf jene unmittelbar psychologisch relevante Eigenschaft, die heute als sicheres Indiz für einen religiösen Wert gerühmt wird. Schließlich fällt das Wort »Demokratie« samt Ableitungen nirgendwo in den Konzilsaussagen, obwohl es in den Sachregistern approbierter Textausgaben aufgeführt ist. Dennoch ist die Modernisierung der nachkonziliaren Kirche großenteils ein Demokratisierungsprozeß. (Fs)
103b Offen über das Konzil hinaus geht man auch dann, wenn der Buchstabe des Konzils nicht beachtet wird und die Reformen dem gesetzgebenden Willen des Konzils zuwiderlaufen. Das augenfälligste Beispiel ist nach wie vor der allgemeine Ausschluß der lateinischen Sprache aus den lateinischen Riten, in denen sie laut Artikel 36 der Konstitution über die Liturgie erhalten bleiben sollte. Statt dessen wurde sie praktisch geächtet, indem man die Messe allenthalben in den Volkssprachen zelebriert, sowohl im didaktischen Teil als auch im Teil der Opferung; s. §§ 277-283. (Fs)
103c Doch wird das offene Überschreiten noch dadurch übertroffen, daß man unter Berufung auf den »Konzilsgeist« den Gebrauch neuer Vokabeln einführt, die dazu dienen, eine eigenständige Auffassung als Botschaft des Konzils zu vermitteln, und sich zu diesem Zwecke gerade die Unbestimmtheit gewisser Konzilsaussagen zunutze macht2. Von äußerster Wichtigkeit ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß das Konzil zwar wie üblich eine Kommission für die authentische Auslegung seiner Dekrete eingesetzt hat, diese aber niemals authentische Erläuterungen herausgegeben hat und nirgends angeführt wird. So wurde die Nachkonzilszeit zu einer Zeit der Ausdeutung statt der Ausführung des Konzils. Mangels einer authentischen Auslegung fiel die Klärung der Stellen, wo die Vorstellung des Konzils unbestimmt und strittig erschien, Theologendisputen anheim, was zu jener schweren, von Paul VI. in seiner Ansprache vom 7. Dezember 1969 beklagten Beeinträchtigung der kirchlichen Einheit führte, s. § 7. Der mehrdeutige Charakter der Konzilstexte3 schafft somit eine Grundlage sowohl für die neuerungsbeflissene als auch für die traditionsgebundene Hermeneutik und löst eine regelrechte hermeneutische Kunstfertigkeit aus, die so erheblich ist, daß man nicht umhin kann, sie hier kurz zu umreißen. (Fs)
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